Mit dem heutigen Tag istt meine letzte Woche hier in Indien
angebrochen. Zwei Tage verbleiben mir noch im Projekt, bevor meine
beiden Mitfreiwilligen, Joelle und Luca, und ich nach Bangalore
aufbrechen, weil für sie eine Quarter Time Evaluation ansteht.
Dieser Evaluation werde ich nicht beiwohnen dürfen, aber dennoch
dachte ich, es wäre schöner, gemeinsam die Strecke, die ich über
kurz oder lang ja sowieso werde zurücklegen müssen, da am 31. Juli
um 3.00 Uhr morgens mein Flug von Bangalore zurück nach Frankfurt
geht, zu reisen und noch ein paar letzte Tage gemeinsam zu
verbringen. Vorbereitungen muss ich kaum noch welche treffen, die
Tasche ist nahezu vollständig gepackt, die letzten Reisegeschenke
besorgt und nur das Fragen nach den Rezepten indischer Gerichte steht
noch an.
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Der Sri Varadharaja Perumal-Tempel in Kanchipuram |
So viel zur kommenden Woche. In der vielen Zeit, die ich hatte,
hab ich natürlich häufig darüber nachgedacht, wie ich mich nach
meiner Rückkehr verändert haben werde, ob und wie ich an den
Herausforderungen gewachsen sein werde, welche Erfahrungen ich
gemacht haben werde, aber auch, welchen Einfluss ich auf die Menschen
ausgeübt haben werde, denen ich begegnet bin, ob in meiner
Gastfamilie, im Projekt oder auf der Straße. Habe ich mich als Gast
korrekt verhalten oder werden es neue Freiwillige schwer haben, weil
ich mich falsch verhalten und somit ein negatives Bild von
(deutschen) Freiwilligen geboten habe? Ist meine Gastfamilie nach den
Erfahrungen überhaupt bereit, neue Freiwillige aufzunehmen, waren
Luca und ich doch die ersten? Hab ich eventuell ihr Interesse an
fremden Ländern und Menschen, was sehr schön wäre, geweckt?
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Kmasutrra-Reliefs im 100-Säulen-Mandapam |
Nun, ich bin sicher, mich zumindest nicht allzu falsch verhalten
zu haben, sodass ich zuversichtlich bin, dass meine Familie neue
Freiwillige aufnehmen wird (allerdings muss ich noch erfragen, ob
dies schon zur nächsten Sommerausreise, die quasi mit meiner Abreise
in das Land kommt, der Fall ist), und diese auch die Möglichkeit
erhalten, sich wohlzufühlen. Jedoch habe ich wenig Hoffnung, dass
aus meinen Gasteltern die nächsten Globetrotter werden (übertrieben
ausgedrückt), denn von den wirtschaftlichen Gesichtspunkten einmal
abgesehen, die das Bereisen fremder Länder für Nichteuropäer
verdammt schwierig machen, und weshalb wir uns aufgrund unserer
Privilegiertheit diesbezüglich wirklich glücklich schätzen können,
glaube ich nicht, dass die Fremde überhaupt einen Reiz auf sie
ausübt. Sie wirken zufrieden in ihrer kleinen Welt, deren Grenzen
hinter Chennai enden. Auch meinem älteren Gastbruder würde ich
dergleichen nicht zutrauen, in der Tat habe ich in den vergangenen
vier Monaten nicht einmal erlebt, dass er überhaupt für ein paar
Tage nicht da war, aber es wäre ja auch zu unbequem, auf die
Privilegien des Erstgeborenen verzichten und sich stattdessen an neue
Gepflogenheiten anpassen zu müssen. Einzig mein jüngerer
Gastbruder, Abu, der für FSL arbeitet und die treibende Kraft
dahinter gewesen ist, uns zu beherbergen, wirkt, als könne er es
kaum erwarten, die Welt zu sehen. Ihm würde ich es zutrauen, mal
nach Deutschland zu reisen, was mich sehr freuen würde. Generell hab
ich den Eindruck, dass die beiden Brüder unterschiedlicher kaum sein
könnten, trotz ähnlicher Voraussetzungen. Auf der einen Seite
Sudharshan, der ältere, 33, bereits verheiratet, hat kürzlich seine
Doktorarbeit in „Social Work“ abgegeben. Er gibt den Vorsänger
in der Kirche, sieht gerne fern und lässt sich gerne bedienen. Zwar
spricht er Englisch, doch kommuniziert er höchst selten mit mir und
auch dann eher in einem grummeligen Unterton. Kurz, er macht einen
eher griesgrämigen Eindruck. Auf der anderen Seite Ambedkar, genannt
Abu, 29, der für FSL mit überwiegend koreanischen Freiwilligen
arbeitet, eher zurückhaltend ist, gelegentlich den Gottesdienst
schwänzt, seine hinduistische Freundin vor seinen Eltern
verheimlicht und einem immer mit Rat und Tat beiseite steht, wenn er
nicht gerade wochenlang für FSL unterwegs und somit faktisch
„verschollen“ ist, weil seine Familie keine Idee hat, wo er sich
gerade aufhält. Aber all das ist nicht schlimm, denn sie alle sind
sehr gastfreundliche und herzliche, und ich bin mir sicher, wenn da
die Sprachbarriere nicht wäre, hätte ich sicherlich noch mehr
schöne Momente mit meiner Familie verbringen können, was ich im
Nachhinein etwas schade finde.
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Meine Gastfamilie (bis auf die Außen stehenden Kinder, die sind aus der Nachbarschaft) |
Auch wenn es nicht immer danach geklungen haben mag, ist
Indien ein großartiges Land. An jeder Ecke gibt es etwas neues zu
entdecken, jeder Landstrich hat eine eigene Geschichte, eigene
Dialekte oder gar Sprachen und eigene kulturelle Eigenschaften.
Darauf sind viele Inder, denen ich begegnet bin, sehr stolz. Im Falle
der Tamilen lässt sich das daran erkennen, dass ihre politischen
Parteien lange Zeit für die Gründung einer von Indien unabhängigen
dravidischen Union eintraten und sich die moderne Legende hält, der
indische Premier Modi habe ausgesagt, Tamil sei „die schönste
Sprache Indiens“, was mir doch etwas übertrieben vorkam. Übrigens
wurde die dravidische Union nur von tamilischen Politikern gefordert,
in anderen dravdischen Staaten fand die Idee hingegen wenig Anklang.
Dass es für mich nun bald nach Hause geht, betrachte ich mit
einem lachenden und einem weinenden Auge: Es gibt noch so vieles für
mich zu entdecken, der indische Subkontinent bietet alleine genug
Orte, die eine Reise wert sind, um ihn ein bis zwei Jahre
ununterbrochen zu bereisen. Aber ich freue mich auch schon unheimlich
auf zu Hause, auf die Menschen, die mir etwas bedeuten, darauf,
wieder Musik machen zu können und nicht immer nur Reis zu essen und
auf gemäßigtere Temperaturen. Und nicht zu vergessen, die
Pünktlichkeit der Deutschen Bahn.
Achja, und keine Sorge, ein ausführlicheres Résumé wird folgen,
sobald ich wieder im „wunderbaren Deutschland“ bin.
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Der Herr der Fliegen (und Kälber) |