Montag, 24. April 2017

Woche Drei: Die Geißel des Rassismus

Mit Beginn der zweiten Arbeitswoche kehrte so langsam Normalität ein: Der Weg zum Projekt war uns nun bekannt, ebenso wie der grobe Arbeitsablauf dort. In einem weiteren Gespräch mit unserer Projektleiterin, Mrs. Shiranee, stellten sich auch viele der Befürchtungen, die uns durch unsere ersten Eindrücke vermittelt worden waren, als unbegründet heraus (hier geht’s übrigens zur Facebook-Seite des Projektes: https://www.facebook.com/peopleforanimalschennai/ ). So hatten wir z.B. geglaubt, die Hunde seien nicht kastriert und viele der schwangeren Tiere seien dies, also schwanger, erst im Tierheim geworden. Tatsächlich werden jedoch, sofern ein zu hohes Alter dies nicht verhindert, alle Rüden kastriert. Einziges wirkliches Problem ist jedoch das begrenzte Budget, da sich das Projekt nur durch Spenden finanziert und gleichzeitig, anders als in Deutschland, wenige der Tiere das Heim wieder verlassen, es also keine Abnehmer für rehabilitierte Hunde, etc. gibt, es sei denn, eines verstirbt, was leider nicht allzu selten vorkommt. Insbesondere die Welpensterblichkeit ist aus meiner Sicht erschreckend hoch, wobei ich aber gestehen muss, nicht beurteilen zu können, wie hoch eine „normale“ Welpensterblichkeit ist, da ich vor der Arbeit nie wirklich Umgang besonders mit Hunden hatte.


Aber back to topic: Die erste wirkliche Arbeitswoche verlief, verglichen mit der halben davor, wie im Flug. Wir begannen, die Mitarbeiter besser kennenzulernen, lernten Namen – der Mitarbeiter wie der Tiere – und versuchten, auch unsere Kommunikationsfähigkeit zu verbessern. Nebst der drückenden Hitze, die an manchen – den meisten – Tagen aus Temperaturen von bis zu 39°C bestand, gab es allerdings auch ein anderes Problem: Langeweile. Aufgrund der recht hohen Zahl an Freiwilligen in dem Projekt – wir sind derer drei – war es so, dass Phasen der Hochbetriebsamkeit mit Phasen, in denen das Nichtstun förmlich auf die Spitze getrieben wurde und wir als reine Beschäftigungstherapie Hunde entzeckten, wechselten. Es mag dies auch der Tatsache geschuldet sein, dass wir erst seit anderthalb Wochen dort sind, natürlich kann man einem Ungelernten keine verantwortungsvollen Aufgaben überantworten, und dementsprechend hege ich die Hoffnung, dass dies sehr bald besser werden wird. Doch in der vergangenen Woche hatte ich nicht selten das Gefühl, meine Zeit zu vertrödeln und absolut unnütz zu sein.


Da unser Projekt selbst in dem Vorort von Chennai, in dem es liegt, sich nochmal am Rande befindet, endet unser Weg nicht mit der letzten Bushaltestelle, sondern wir müssen wahlweise eine zehnminütige Rikschafahrt oder einen halbstündigen Fußmarsch auf uns nehmen. Dieser Weg war und ist, vor allem zu Beginn, Grund zahlreicher abenteuerlicher Begegnungen und Ereignisse.

Als Individuum europäischer Herkunft fällt man in einem Land, in dem sich Abseits der großen Touristenhotspots nur sehr wenige hellhäutige Menschen aufhalten, sehr stark auf. Leider ist die helle Haut von Menschen sehr häufig mit einem gewissen vorgefertigten Bild konnotiert, dessen Bekanntschaft wir leider bereits mehrfach machen durften.

Unsere erste Begegnung mit dieser anderen Art des Rassismus erfuhren wir, als wir zu unserer Gastfamilie gelangen wollten. Von dem Rikschafahrer, der uns deutlich mehr abknöpfte, als normalerweise für die gefahrene Strecke üblich ist, habe ich schon berichtet. Ähnliches kam in unserer ersten Arbeitswoche häufiger vor, Rikschafahrer verlangten deutlich überhöhte Preise und waren nicht bereit, sich auch nur ansatzweise dem Normalpreis anzunähern, obwohl dieser uns bekannt war. Dies resultierte in eine hohe Frustration meinerseits, anscheinend wird helle Haut automatisch mit Reichtum verknüpft. Ja, wir sind, selbst als Freiwillige mit einem monatlichen Taschengeld von 100€ dank der extrem niedrigen Lebenshaltungskosten in Indien überdurchschnittlich wohlhabend. Aber ist das ein Grund, unsere Unerfahrenheit und mangelnden Kenntnisse der örtlichen Gepflogenheiten sowas von auszunutzen und versuchen, uns jedes Mal abzuziehen? Sehr viel bezeichnender war für mich eine Busfahrt zum Projekt, während der Folgendes geschah: Nachdem wir einen vergleichsweise niedrigen Preis für die Tickets gezahlt hatten – irgendwie ist uns immer noch nicht klar, was der Unterschied zwischen den einzelnen Busarten ist, der einen Preisunterschied rechtfertigen würde, da beide Bustypen quasi identisch sind –, kam der Conductor auf halbem Wege erneut zu uns, brabbelte uns auf Tamil zu, von dem wir natürlich kein Wort verstanden und deutete auf seine Tickets und seine Geldbörse. Irgendwie gelang es uns zu verstehen, dass wir anscheinend nicht genug für die Strecke bezahlt hatten und jetzt nochmal zahlen sollten. Leider war auch keine der uns umgebenden Personen des Englischen mächtig genug, um die Situation vollends aufzuklären. Nichtsdestotrotz versuchten wir, da er genau den gleichen Betrag verlangte, den wir bereits bezahlt hatten, ihn darauf zu verweisen, dass wir bereits bezahlt hätten und er kein Recht habe, den doppelten Fahrpreis zu verlangen, indem wir ihm unsere Tickets zeigten. Diese griff er sich, zerknüllte sie und warf sie kurzerhand aus dem Fenster. Perplex und maßlos mit der Situation überfordert, blieb uns nun nichts anderes mehr übrig, als zwei neue Tickets zu kaufen.


Zum Glück war dies bisher ein Einzelfall, der mich dennoch zutiefst verstört hat. Was gibt es für einen Grund, zwei andere Menschen in aller Öffentlichkeit so schamlos auszunutzen? Ich weiß, dass ich fremd in diesem Land bin, es springt mir ja förmlich an jeder Ecke ins Gesicht. Aber es macht die Eingewöhnung nicht gerade leichter, wenn man begafft wird, wie ein exotisches Tier, sobald man Menschen auf der Straße begegnet, oder überall höhere Preise aufgerufen werden, nur weil man eine andere Hautfarbe hat. Vor allem in Indien, das abwechslungsreich und divers ist, wie kaum ein zweites Land, was Kulturen betrifft, Sprachen, Religionen, Traditionen, und selbst Hautfarbe und Aussehen, hat mich dies überrascht. Mal im Ernst, abgesehen von der Haar- und Augenfarbe habe ich wenig Regionen gesehen, in denen die Menschen so unterschiedlich und alle auf ihre Weise einzigartig sind. Andererseits fügen sich diese Erlebnisse auch in ein Bild, das sich durch vorherige Informationen gebildet hatte.

Um dieses Bild umfassend beschreiben zu können, möchte ich kurz etwas über die unterschiedlichen Sprachfamilien in Indien, seine Geschichte und die politische Situation loswerden. Neben den heute nur noch in geringer Zahl vertretenen Adivasi, den Tribals, die als die Ureinwohner Indiens gelten, gibt es zwei große vermeintliche Ethnien, die sich vor allem über ihre unterschiedlichen Sprachen definieren. Zum einen wären da die Menschen, die die indogermanischen indoarischen Sprachen sprechen, also z.B. Hindi-Urdu, Bengali, Marathi und das klassische Sanskrit (das allerdings nicht mehr gesprochen wird, sondern nur geschrieben). Die sich damals selbst als Arier bezeichnenden Menschen wanderten vor 3500 Jahren in Wellen auf den indischen Subkontinent ein und verdrängten die bereits dort ansässigen dravidisch sprechenden Menschen in den Süden Indiens, wo die dravidischen Sprachen wie Tamil, Kannada, Telugu und Malayalam noch heute dominieren. Im Zuge des Europäischen Imperialismus wurden die Sprecher der jeweiligen Sprachfamilien mit Ethnien gleichgesetzt, sodass eine vermeintliche Dichotomie zwischen indogermanischen Ariern und den Draviden geschaffen wurde, wobei beiden auch unterschiedliche äußerliche Eigenschaften zugesprochen wurden: Auf der einen Seiten die großgewachsenen, hellhäutigeren, zivilisierteren und mannhaften Arier, auf der anderen Seite die gedrungenen, dunkelhäutigen, primitiven und weibischen Draviden. Aufgrund der Tatsache, dass im Kastensystem ebenfalls in seiner Hierarchie Unterschiede gemäß der Hautfarbe widerspiegelt, bildete sich schnell die sozialdarwinistische Theorie, die Indoarier hätten die Draviden unterjocht und sie zu Angehörigen niedriger Kasten oder Kastenlosen gemacht.
Tatsächlich erschufen die Europäer künstlich diese Dichotomie von arischer und dravidischer Rasse, genauso wie sie aus dem theoretischen Konstrukt des Kastensystems eine politische Realität machten, in der Annahme, dies sei die Realität. Dies und die britische Kolonialherrschaft an sich, während der die indische Bevölkerung eine helle Haut als erstrebenswert erfuhr, haben dazu beigetragen, dass diese zu besitzen, wie fast überall in Südostasien, als großes Schönheitsideal betrachtet wird und Unmengen an Geld in den Kauf von Mitteln, die die Haut bleichen lassen, investiert wird (Zwar wird in Indien anscheinend generell sehr viel mehr in Schönheitsprodukte investiert, aber das ist eine andere Geschichte). Dies hat solche Ausmaße angenommen, dass Menschen mit hellerer Haut sogar bessere Job- und Heiratschancen haben. (Mehr Infos zu dem Thema hier: https://www.theguardian.com/world/shortcuts/2013/aug/14/indias-dark-obsession-fair-skin )

Es lässt sich also feststellen, dass die Hautfarbe in diesem Land eine Rolle von extremer Wichtigkeit spielt, was auch die Reaktionen auf unser Aussehen in Teilen erklärt (neben einer gehörigen Portion Dreistigkeit, denn die meisten Leute sind wirklich ausgesprochen nett und hilfsbereit). Ein Problem, dass meines jedoch vergleichsweise winzig erscheinen lässt, ist der von der Regierungspartei BJP ausgeübte Rassismus. Die Partei des Premierministers Modi verfolgt eine sogenannte hindu-nationalistische Politik, zu der gehört, Hindi als dominierende Sprache durchzusetzen und eine gemeinsame indische Vergangenheit zu konstruieren (so wird die indoarische Migration nach Indien geleugnet und behauptet, beide Sprachfamilien seien gleich lange in Indien ansässig und hätten eine gemeinsame Grundlage) mit dem Ziel, eine hinduistische Nation zu bilden und die anderen Kulturen zu verdrängen oder in die Bedeutungslosigkeit abzuschieben. Ein hinduistischer Chauvinismus also. Und wenn Politiker sich zu rassistischen Aussagen hinreißen lassen, wird auch das versucht, hinterher zu leugnen (http://www.ecoti.in/gWZv2Y).
Auch wenn das ewige Gestarre oder das ständige Von-der-Seite-angesprochen-Werden oder die Tatsache, dass sogar geglaubt wird, Weiße hätten magische Heilungskräfte, nervt, gibt es größere Probleme in diesem Land. Eines davon ist Rassismus. Indien hat ein reales Problem mit Rassismus. Und wie fast überall trifft es die Menschen, die einfach nur eine dunklere Haut haben, als das vermeintliche jeweilige Ideal es vorgibt. Das ist nicht fair. Zwar merkt man in diesem Landesteil relativ wenig davon, da viele Menschen sehr dunkle Haut haben, aber andererseits ist es sehr auffällig, wie Hell die Haut der Menschen in der Werbung, in Filmen oder im Sport ist. Vielleicht betrachten auch die Menschen in Südindien helle Haut tatsächlich als erstrebenswert und verhalten sich deswegen so. Vielleicht ist das auch ihr freier Wille. Aber es ist nicht gerade angenehm, täglich damit konfrontiert zu sein.




Montag, 17. April 2017

Woche Zwei: Ankunft in der Gastfamilie, Beginn der Projektarbeit, Chennai, Ostern

Samstag Abend schließlich machten wir uns auf die Weiterreise: Zu sechst verließen wir das Guest House und fuhren zu einer Reiseagentur, in deren überaus unangenehm warmen Warteraum wir noch eine gute halbe Stunde verbringen durften, um auf unseren Bus zu warten. Als wir dachten, wir seien noch auf ewig dieser Hitze und ekeligen Luft ausgesetzt, ging es schließlich los. Wir verabschiedeten uns von der Freiwilligen, die nach Pondicherry gehen sollte, und ihrer Koordinatorin und bestiegen den Bus. Allerdings brachte dieser uns nur ein Stück aus der Stadt raus, damit wir unser eigentliches Reisegefährt erreichen konnten, anscheinend hatte darüber eine gewisse Fehlkommunikation geherrscht. Doch wir erreichten unseren Übernacht-Schlafbus relativ problemlos und hatten auch hier wieder Glück, dass die Matratzen relativ bequem waren. Nichtsdestotrotz besaß ich eine unerklärliche Angst um meinen Handgepäck-Trolley, den ich nicht wie sonst meinen Rucksack in das dafür vorgesehene Fach am Fußende meines Bettes packen sollte bzw. durfte, sondern unter das Bett. Damit war er jedoch außerhalb meines Blickfeldes und da in diesem jegliche Wertsachen gelagert waren, war meine Paranoia schließlich ausgeprägt genug, um ihn doch noch in das Bett zu legen, was aber zur Folge hatte, dass meine Schlafposition negativ beeinflusst wurde.

Allen Widrigkeiten zum Trotz erreichten wir Poonamallee, einen Randbezirk von Chennai, in den frühen Morgenstunden Palmsonntags 2017. Natürlich waren wir hungrig und mussten auf die Toilette und waren dementsprechend schlecht gelaunt, sodass uns anfangs wenig auffiel, wie viel für sechs Uhr morgens bereits los war und wie aktiv das Leben zum Vorschein trat. Stattdessen fiel uns vor allem eins ins Auge, und das nicht zum letzten Mal: Der Müll. Irgendwie scheint die Müllentsorgung in Indien anders organisiert zu sein, als in Deutschland, oder zumindest wird auf diese deutlich weniger Wert gelegt. Zwar gibt es Müllabfuhren, diese bekommt man jedoch höchst selten zu Gesicht, woraus sich schließen lässt, dass sie entweder des Nachts arbeiten oder aber einfach Mangelware sind. Aus der Seltenheit von Mülleimern und -tonnen schließe ich allerdings, dass letzteres der Fall ist, was auch der Grund dafür sein dürfte, dass je nach Bevölkerungsdichte viel bis sehr, sehr viel Müll am Straßenrand, in irgendwelchen Hinterhöfen oder auf Brachen liegt, eben da, wo der Müll gerade anfällt. Hin und wieder springt auch eine Müllkippe in das Auge des aufmerksamen Beobachters – wobei man sich dafür schon anstrengen muss, denn sie sind selten und unterscheiden sich auf den ersten Blick nur unwesentlich von bspw. einer Industriebrache –, auf der aber ohne Unterscheidung alles landet, was irgendwie als Müll gilt, außer vielleicht Bio-Abfälle, die verrotten ja schließlich.

Ausgehungert und grummelig legten wir daraufhin einen Zwischenstopp in einem Diner ein, in dem wir erstmal Frühstücken konnten. Nun wurde es spannend: Die letzte Etappe zur Gastfamilie stand an. Im Gegensatz zu dem Mädchen aus unserer Gruppe, deren Familie das Wochenende nicht da war und die deshalb für eine Nacht bei unserer Koordinatorin Sandhiya schlief, mussten mein Mitfreiwilliger und ich den letzten Abschnitt alleine bestehen. Wir wurden kurzerhand in den Bus gesetzt, uns wurde gesagt, wo wir den Bus wieder verlassen mussten, und schon waren wir auf uns allein gestellt. Als problematisch erwies sich allerdings, wie sich später herausstellen sollte, dass unsere Koordinatorin uns die Endhaltestelle als Ausstiegsort angab, dem Conductor (in Indien gibt es pro Bus ein Team aus Driver und Conductor; während der Driver fährt – wer hätte das gedacht –, rechnet der Conductor die Tickets ab) allerdings eine bereits früher zu passierende Haltestelle, sodass wir – für uns plötzlich, unvermittelt und verwirrend – relativ früh angewiesen wurden, den Bus zu verlassen, während wir immer noch in dem Glauben waren, zur Endhaltestelle zu müssen, an der wir dann unseren Gastbruder anrufen sollten.

So standen wir nun irgendwo im Nirgendwo in dem Glauben, weitere drei Kilometer laufen zu müssen. Die aufsteigende Tropensonne hielt uns nicht davon ab, unser Glück zu versuchen und so liefen wir vorbei an ärmlichen Häusern, Palmen und Palmsonntags-Prozessionen, für die wir als Weiße eine große Attraktion darstellten. Nach einer guten Viertelstunde hatten wir allerdings genug, wir bedeuteten einem Rikscha-Wallah anzuhalten und versuchten ihm zu erklären, dass wir zur örtlichen zentralen Bushaltestelle wollten. Dies funktionierte leider mehr schlecht als recht, der Fahrer sprach nämlich quasi kein Englisch, aber irgendwie gelang es uns unter Beihilfe eines des Englischen mächtigen Verkäufers, ihm unseren Zielort zu nennen. Die 100 Rupien, die das fünffache dessen bedeuten, was man eigentlich hätte zahlen müssen, fielen kaum ins Gewicht, als wir dachten, endlich am Ziel zu sein. Die nun anstehende Kontaktaufnahme mit unserem Gastbruder, dessen Handynummer Sandhiya uns glücklicherweise noch während des Orientation Seminars überlassen hatte, erwies sich als die nächste Hürde. Jedoch gelang es uns irgendwie, einen der Busfahrer davon zu überzeugen, bei der uns gegebenen Nummer anzurufen – der eigentliche Plan war, dort selbst anzurufen, aber anscheinend geben Inder nicht gerne ihr Handy aus der Hand, so zumindest mein Eindruck – und so kam unser Gastbruder, Abu, mit einem weiteren Freund, um uns abzuholen und zu unserer Gastfamilie zu bringen.

Von unserer Koordinatorin wussten wir, dass unsere Gastfamilie christlichen Glaubens sei (Dies sollte zu einem weiteren interessanten Erlebnis führen, von dem ich noch berichten werde). Deshalb war es zunächst wenig verwunderlich, niemanden im Haus anzutreffen, schließlich war ja Palmsonntag. Wir versuchten zunächst, uns von der strapaziösen Reise in dem uns zugewiesenen Zimmer auf der Dachterrasse im zweiten Stock des Hauses zu erholen. Das Haus selbst ist, wie wir sehr bald feststellen durften, für indische Verhältnisse sehr geräumig, insgesamt scheint die Familie relativ wohlhabend zu sein. Gegen Mittag wurden wir zum Essen ins Wohnzimmer gerufen, wir wurden der Familie vorgestellt und überreichten unsere Gastgeschenke – wie diese aufgenommen worden sind, kann ich allerdings nicht sagen. Wir wurden sehr freundlich Willkommen geheißen und durften tatsächlich auf dem Boden sitzend von Palmenblättern essen. Diese vermeintlichen Esstraditionen nahmen leider sehr schnell ein Ende, von Palmenblättern haben wir seitdem nicht mehr gegessen und auf dem Boden sitzen wir seit ein paar Tagen auch nicht mehr. Den weiteren und auch den nächsten Tag verbrachten wir mit dem Versuch, Schlaf nachzuholen, was sich jedoch als schwierig herausstellt, wenn zwischen Boden und einem selbst nichts als eine Bastmatte ist, mit Lesen und entspannen. Montag Abend schließlich wurde uns von Abu das Dorf gezeigt, welches ca. 500 Einwohner hat. Dabei wurden wir auch Thomas vorgestellt, einem jungen Studenten und Freund Abus, der ebenfalls die Verantwortung für uns übernommen hat. Es war dann vor allem Thomas, der uns über die örtlichen Begebenheiten aufklärte, uns die Schreine und Läden zeigte und uns einigen Bewohnern vorstellte, sodass wir sogar in ein Haus auf einen Kaffee eingeladen wurden.

Am Dienstag hieß es für uns früh aufzustehen, um 9 Uhr sollten wir bereits an der Busstation in Poonamallee sein, um von dort aus nach Kancheepuram zu fahren. Kancheepuram ist eine ca. 165000 Einwohner fassende Stadt gut 70 Kilometer südwestlich von Chennai. Sie gilt als eine der sieben heiligen Städte des Hinduismus und ist gespickt mit alten Tempelanlagen, zudem ist sie bekannt für ihre hochwertigen Seidenstoffe. Der Grund für diesen Ausflug war der, dass meine beiden Mitfreiwilligen, Joelle und Luca, sich bei dem dortigen Polizeibüro registrieren lassen mussten, da ihr Visum für mehr als 180 Tage gültig ist, beide bleiben nämlich für elf Monate in Indien. Auch wenn ich sie dabei nicht hätte begleiten müssen, tat ich das doch gerne, denn als kulturell interessierter Mensch wollte ich unbedingt die Tempel sehen. Blöd nur, dass wir Kancheepuram erst gegen elf erreichten, weil Sandhiya zu spät war, und von da an noch weitere drei Stunden auf den Fluren der Polizeiwache verbringen durften. So war es bereits 14 Uhr, als wir endlich wieder Tageslicht erblickten und dementsprechend hungrig waren wir. Nachdem der Hunger gestillt war, blieb leider nur noch ein wenig Zeit für den Besuch einer Tempelanlage, die wiederum dadurch weiter verkürzt wurde, dass der Tempel bis 16 Uhr verschlossen war. Also vertrieben wir uns die Zeit in einem Laden, der mit Seidenstoffen handelte. Die meisten dieser Stoffe waren sehr schön und dazu noch verhältnismäßig billig, wenn man bedenkt, was man an einem der Touristenhotspots für auch nur ansatzweise vergleichbare Ware bezahlt hätte. Als Joelle endlich zufriedengestellt war, konnten wir den Tempel betreten. Der Besuch desselben war wirklich beeindruckend, die schiere Pracht der Tortürme, versehen mit unzähligen Figuren, die bis ins kleinste Detail ausgearbeitet sind. Dazu die Weitläufigkeit der Anlage, die sich vor allem um den zentralen Schrein und ein großes Wasserbecken anordnet, kombiniert mit einer himmlischen Stille. Zu blöd, dass wir nach einem kurzen Rundgang bereits zurück in Richtung Chennai aufbrechen mussten.

Mittwoch schließlich war es soweit: Der erste Tag im Projekt. Unsicherheit darüber, wie wir dorthin kommen sollten und wie lange der Weg dauern sollte, schließlich sollten wir planmäßig um 10 Uhr anfangen, schienen nur bei mir gegeben zu sein. Unser Gastbruder und unsere Koordinatorin hatten hingegen die Ruhe weg; Sandhiya sogar so sehr, dass sie erst um 10 den Bus zu der Station nahm, an der wir uns mit ihr und Joelle treffen wollten, sodass wir erst gegen kurz vor 11 unsere Reise fortsetzen konnten. In Redhills schließlich angekommen, eine gute Stunde später, mussten wir ebenfalls noch den Umweg über einen Shared Jeep nehmen, um das Projekt zu erreichen. Dort wurden wir bei Mrs. Shiranee, der Projektleierin und -gründerin vorstellig, sie zeigte uns das Gelände, und wir durften für den Nachmittag bereits erste Aufgaben übernehmen, was beinhaltete, die Pferde zu bürsten und einen Teil der Hunde zu waschen. In der Tierauffangstation, die als Standort Chennai der Organisation „People for Animals“ fungiert, leben insgesamt ca. 850 Tiere, davon alleine 350 Hunde, aber auch Katzen, Pferde, Rinder, Vögel, Ziegen, Esel, Schweine und sogar ein Affe. Mrs. Shiranee hat es sich zum Ziel gesetzt, ausgesetzten Haustieren einen Zufluchtsort zu bieten, dementsprechend missgestaltet kommen viele der Tiere in dem Projekt an, einige haben sogar tiefe Fleischwunden, und fast alle Hautprobleme. Sie versucht auch, ausgemusterten Polizeipferden ein Zuhause zu bieten, ebenso wie sie versucht, Katzen, die eigentlich von Roma gefangen werden, um sie zu essen, von diesen zu befreien und sie aufzunehmen. Allerdings ist ihre Arbeit wie ein Tropfen auf dem heißen Stein, denn das eigentliche Problem liegt im generellen Umgang mit den Tieren in Indien, deren Leben häufig wenig bis gar nichts zählt. So bestürzend und bedrückend diese Arbeit, die hauptsächlich aus Hautpflege der diversen Tiere, Füttern und Zuwendung besteht, zuweilen ist, so befriedigend und glücklich machend kann sie im nächsten Augenblick sein. Man fühlt sich häufig, als kämpfe man gegen Naturgewalten wie das Meer, einen Kampf, den man nicht gewinnen kann, z.B. wenn man aus dem Fell der Hunde unzählige Zecken entfernt, obwohl man weiß, dass der gleiche Hund am nächsten Tag bereits wieder ähnlich viele Parasiten zwischen seinen Zehen sitzen haben wird. Wenn man die teils aufgrund ihres Alters oder ihres Zustandes, in dem sie eingeliefert wurden, extrem leidenden Tiere sieht, kommt man sich vor wie ein Palliativmediziner; man kann ihr Leiden nicht beenden, man kann es nur leichter machen und irgendwie sein Gewissen beruhigen, indem man sich sagt, man habe sein Bestes getan.

Nun gut, genug des Weltschmerzes. Während wir Karfreitag, der dieses Jahr auf das tamilische Neujahrsfest fiel und damit ein offizieller Feiertag war, nicht hätten arbeiten müssen, dies aber trotzdem taten, hatten wir Samstag und insbesondere Sonntag tatsächlich frei. Ich nutzte den ersten Tag, um relativ spontan in das Stadtzentrum von Chennai zu fahren, blöderweise aufgrund diverser Missverständnisse leider alleine. Nach einer gut dreiviertelstündigen Zugfahrt erreichte ich die Madras Central Station. Ursprünglich hatte ich mir vorgenommen, mehrere der sehenswerteren Gebäude aus der Nähe zu betrachten, was allerdings meistens leider nicht möglich war. Stattdessen besuchte ich den Marina Beach und wanderte insgesamt gut 18 Kilometer durch die Stadt, die mich vor allem durch ihre Lebendigkeit, aber durch die Zahl der Leute und die Menge an Müll, faszinierte. Für Ostersonntag hatte ich meiner Gastfamilie versprochen, mit ihr den Gottesdienst zu besuchen. Erst zu dieser Gelegenheit offenbarte sich mir, dass unser Gastvater Priester ist und somit den Gottesdienst leiten würde. Dieser begann, anders als beispielsweise in einem katholischen Gottesdienst, mit rund einer halben Stunde Gesang, während nach und nach die einzelnen Gemeindemitglieder eintrafen. Der Gesang wurde unterlegt durch rhythmisches Geklatsche und Percussion, sodass sich eine immer größere Spannung aufbaute, bis die Gemeindemitglieder der Ekstase naheschienen. Insgesamt erinnerte mich der Gottesdienst stark an den amerikanischer Gospel-Kirchen und wie sich herausstellte, ist meine Gastfamilie Teil einer Pfingstbewegung. Auch wenn ich kein Wort verstand – dies wurde während der Predigt besser, da ich einen Übersetzer zur Seite gestellt bekam, den ich allerdings aufgrund der Lautstärke mehr schlecht als recht verstehen konnte –, so berührte mich insbesondere der Gesang sehr, ebenso wie die familiäre Atmosphäre, die allerdings eher der geringen Größe der Gemeinde von ca. 25 Leuten zuzuschreiben war. Ich wurde gesegnet und durfte mich vorstellen und bekennen. Nach einem gemeinsamen Frühstück hatte ich etwas Zeit für mich, die ich dazu nutzte, auszuspannen. Gegen Abend ging es dann zum Volleyballspielen ins Dorf, bei dem ich den letzten Abend meiner ersten Woche in meiner Gastfamilie beschloss.

Samstag, 8. April 2017

Woche Eins: In einem fremden Land

Während ich diese Zeilen schreibe, neigt sich die erste Woche dem Ende zu. Ich habe viel gesehen und viel erlebt und bin mir trotzdem immer noch nicht ganz dessen bewusst, was ich gerade hier erlebe. Die Eindrücke sind so umfassend und schier unerschöpflich, sodass ich nicht denke, dass irgendjemand, geschweige denn ich, in der Lage ist, den Zauber dieses Landes je ganz mit Worten einzufangen. Aber fangen wir damit an zu beschreiben, was sich so zugetragen hat im fernen und fremden Indien.

In der Nacht von Samstag auf Sonntag trafen die anderen Freiwilligen ein. Unglücklicherweise geschah dies um ca. 3.30 Uhr, sodass ich unsanft von der angehenden Zimmerbeleuchtung aus meinem nicht wirklich festen Schlaf gerissen wurde. Ich mimte dennoch den Schlafenden, weshalb sich ein erstes Kennenlernen auf den nächsten Morgen verschieben sollte. Schnell war dann am Morgen ein Gespräch im Gange und ebenso schnell stellten wir fest, dass wir vieles gemeinsam haben. Beim gemeinsamen Verzehr von Idli – dies sind kleine Reisküchlein – zum Frühstück wurden Geschichten über die Anreise und den bisherigen Lebenslauf, der sich vor allem aus der Schullaufbahn zusammensetzt, ausgetauscht. So stellten wir z.B. fest, dass ich mit zwei der Mädchen tatsächlich bereits meine Auswahl absolviert hatte. Den Tag verbrachten wir, die Gruppe bestand nun aus etwa elf Personen, überwiegend mit Quatschen und den bei solchen Gelegenheiten so allseits beliebten Rätselspielen. Auch für eine kleine Erkundung der Umgebung war Zeit.

Am Abend schließlich sollte unsere Weiterreise nach Kundapur beginnen. Gegen 19.45 Uhr verließen wir das Guest House und stürzten uns in den Verkehr von Bangalore: Mit vier Auto-Rikschahs wollten wir zu dem Ort gelangen, an dem unser Sleeper-Bus abfahren sollte. Diese ungefähr zwanzigminütige Fahrt durch die Straßen Bangalores erwies sich als das erste große Abenteuer auf dieser Reise. In dem kleinen Gefährt erlebt man den Verkehr noch viel unmittelbarer als beispielsweise in einem Auto, und wenn dieser dann noch, zumindest in meinen Augen, so viel chaotischer und unübersichtlicher ist, als in Deutschland, lassen sich gefühlte Nahtoderfahrungen nicht vermeiden. Gleichzeitig war es aber auch faszinierend zu erleben, wie gewandt sich der Fahrer durch die kleinsten Lücken zwischen den größten Fahrzeugen hindurchschlängelt, wie der Verkehr trotzdem auf seine Weise doch weitestgehend sicher funktioniert und wie rege das Leben auf und an den Straßen selbst nach Einbruch der Dunkelheit noch ist.Schließlich erreichten wir den Ort, an dem wir in den Bus stiegen sollten, der in keinster Weise für einen von uns Freiwilligen als Bushaltestelle erkennbar war. Um ehrlich zu sein ist das Busfahren zum und vom Projekt auch der Punkt, der mich im Moment am meisten beunruhigt, denn woran man erkennen soll, welcher Bus wann wie von wo wohin fährt, habe ich noch nicht begriffen. Aber ich denke, dass ich dahingehend in einer Woche schlauer sein werde. Um kurz vor Neun konnten wir dann in den Bus steigen, der im Inneren radikal anders als ein deutscher Bus war, ganz abgesehen davon, dass dies ein Fernbus war, und Fernbusse in Deutschland immer noch quasi inexistent sind, verglichen mit Indien: Er bestand zu drei Vierteln aus Betten bzw. Schlafplätzen – Betten klingt doch arg euphemistisch – und nur zu einem sehr viel geringeren Anteil aus normalen Sitzplätzen. Die anschließende Fahrt ins 400km entfernte Kundapur sollte sich bereits als das nächste Abenteuer herausstellen, doch zu dem Zeitpunkt war ich da definitiv noch nicht bereit für.

Zuerst dachte ich, was ich doch für ein Glück habe, ein Einzelplatz direkt am Fenster, sodass ich sogar noch viel sehen könne. Der Platz war jedoch relativ schmal und maximal 1,80m lang, sodass ich mich ziemlich eingeengt fühlte, denn gerade ausstrecken konnte ich mich nicht. Auch die Matratze war recht hart und der Fensterplatz erwies sich ebenfalls nicht wirklich als Segen, denn wie sich herausstellte, mussten wir mindestens zwei Stunden fahren, bis wir das Ende Bangalores erreichten. Zudem war es tierisch warm, meine Kleider klebten mir am Leib, und bei jeder der bereits bekannten Bodenwellen wurden alle im hinteren Bereich des Busses ordentlich durchgeschüttelt, gleich so, als sei der Busfahrer der Meinung, uns Europäern die Schönheit der indischen Straßen im wahrsten Sinne des Wortes einprägen zu müssen. Zu diesen Glücklichen gehörte blöderweise auch ich, wohingegen die meisten meiner Mitfreiwilligen, die im vorderen Teil des Busses lagen, davon nur wenig mit- und abbekamen. Dazu kamen dann irgendwann Hunger und Harndrang; bei ersterem rettete glücklicherweise ein noch in Deutschland gekauftes Käsecroissant das Leben, während letzteres sich als reale Bedrohung meines Schlafes herausstellte und erst kurz vor Knapp durch die einzige Toilettenpause auf der insgesamt, von Tür zu Tür beinahe zwölf Stunden langen Fahrt aus dem Weg geräumt wurde.

Um halb acht erreichten wir endlich das FSL Training Center in Kundapur. Nach der turbulenten Fahrt konnten wir endlich duschen, was auch bitter nötig war und zumindest versuchen, uns zu erholen, bis das Programm nach dem Mittagessen beginnen sollte. Das Training Center lag außerhalb des eigentlichen Ortes Kundapur inmitten von Bäumen und Natur und natürlich machten wir uns sofort daran, dass recht große Gelände in Augenschein zu nehmen.

Nachdem wir mit dem Mittag fertig waren, startete das Programm. Dazu gehörte ein traditionell indisches Willkommen und eine Führung über das Gelände. Den Abend hatten wir frei und so versuchten wir, uns der Mücken erwehrend, Kontakt in die Heimat aufzunehmen. Der nächste Tag brachte weitere Vorträge über FSL und Indien sowie unsere Sicherheit. Zudem fuhren wir am Nachmittag dann nach Kundapur selber, um uns dort mit Klamotten und weiteren Gegenständen des täglichen Bedarfs – bei mir Flip-Flops – einzudecken. Am Mittwoch begann unsere erste Spracheinheit, die uns vor Augen führte, dass es noch ein weiter Weg werden wird, bis wir uns auf Tamil (oder Kannada) werden unterhalten können und wir bereiteten einen Vortrag über das wunderbare Deutschland vor, denn am nächsten Vormittag war ein Besuch in einer Schule geplant, in der wir für insgesamt anderthalb Stunden uns um einen Teil der Kinder kümmern sollten, da in Indien gerade Schulferien herrschen. Später besuchten wir die Gastfamilie eines Freiwilligen, der selbst mit anderen Freiwilligen in einem zu dem Center gehörenden Projekt arbeitete, was vor allem den Unterhalt des Geländes und der Tiere beinhaltete. Dieser Ausflug war sehr interessant, wir wurden sehr warm willkommen geheißen und aufgenommen. Gleichzeitig war es uns so möglich, Fragen zum Leben in einer Gastfamilie zu stellen und aus erster Hand Antworten zu erhalten. Der Donnerstag begann unfassbar früh. Im Gegensatz zum sonst so entspannten Aufstehen um acht Uhr klingelte mein Wecker diesmal bereits um Viertel vor fünf – okay, eigentlich klingelte er das erste Mal um 4.30 Uhr, dann um 4.35 Uhr und 4.40 Uhr, bevor ich um 4.45 Uhr schließlich geweckt wurde; ich muss mich wohl in meiner Tiefschlafphase befunden haben. Der Grund für diese unmenschliche Aufsteh-Zeit war der Entschluss, zum Yoga im Tempel von Kundapur gehen zu wollen. Also machten wir uns in völliger Dunkelheit zu neunt auf den Weg und tatsächlich war dies wohl eine der besten Entscheidungen in Indien bisher, denn das Gefühl, den Himmel über einem aufgehen zu sehen, während man sich selbst abmüht, die Übungen sauber durchzuführen, ist einfach fantastisch. Nach der Einheit, welche um sieben Uhr beendet war, fuhren wir noch an den Strand und badeten im Arabischen Meer. Allerdings verschaffte uns dies nicht wirklich Abkühlung, denn die Temperatur muss nur unmittelbar unter der Temperatur der Luft gelegen haben. Nichtsdestotrotz war dies ein schönes Erlebnis, welches dadurch abgeschlossen und -gerundet wurde, dass wir zu acht in einer Rikschah zum Training Center fuhren, weil wir unter Zeitdruck standen und keine weitere in Sicht war, um uns angenehmer auf zwei Fahrzeuge verteilen zu können. Auch diese Fahrt war, dank der Enge im Tuk-Tuk, sehr abenteuerlich. Der Grund für unsere Eile war der, dass wir recht bald zu der bereits erwähnten Schule aufbrechen sollten, um das Programm beginnen zu können. Dort angekommen, durften wir dem Morgengebet lauschen. Anschließend übernahmen wir in zwei Gruppen die Verantwortung für je 25 Kinder, stellten ihnen Deutschland vor – sehr spannend – und spielten anschließend Spiele mit ihnen – was natürlich viel weniger spannend war. Jedoch mussten wir bald den Heimweg antreten, was uns aber nicht ganz ungelegen kam, denn die sengende Mittagssonne machte uns unsere Aufgabe nicht wirklich leichter. Trotzdem hat diese Aufgabe Spaß gemacht, obwohl die Sprachbarriere eine Herausforderung war, aber die Kinder waren sehr offenherzig und aufgeschlossen, was es uns sehr erleichterte. Den Nachmittag verbrachten wir mit weiteren Vorträgen, während denen es einem sehr bald zum Nachteil gereichte, bereits so früh aufgestanden zu sein. Dieser und der letzte Tag plätscherten mehr oder weniger vor sich hin, wir bekamen viele wichtige Infos vor allem auch von anderen Freiwilligen, die bereits seit letztem Sommer hier sind, mit auf den Weg gegeben und erhielten insgesamt sehr viel Input.


Am gestrigen Abend dann musste sich unsere Gruppe schließlich trennen: Nur der Teil, der in Projekten in Bangalore, Chennai oder Pondicherry unterkommen wird, reiste zurück nach Bangalore, wohingegen der Rest in Kundapur verblieb, um von dort auf die Projekte verteilt zu werden. Der Abschied viel schwer, denn obwohl man sich noch nicht sehr lange kennt, ist man doch zu einer Einheit geworden. Die erneute Reise über Nacht mit der dezimierten Gruppe war dieses Mal deutlich angenehmer als die Rückreise, im Bus fanden sich die weichsten Matratzen, denen ich in Indien bisher begegnet bin. So kamen wir nach einer vergleichsweise ruhigen Fahrt heute Morgen im guest house an, versuchten auszuspannen und gingen Shoppen zu Füßen der St. Mary's Basilica. Nachher werden wir erneut weniger werden und der kleine Teil, der nach Chennai geht, seine Reise dorthin fortsetzen. Ich hoffe, dass die Fahrt ebenfalls so angenehm wird, wie die gestrige und ich freue mich darauf, meine Gastfamilie kennenzulernen.

Samstag, 1. April 2017

Indien im Sommer 2017 - Ein erster Eindruck

Nun ist es also soweit: Nach endlos erscheinenden Monaten des Wartens - vor allem auf mein Visum: Danke für Nichts, indisches Konsulat - landete ich gestern Nacht in Bangalore. Zugegeben, diese Monate hätte ich effektiver nutzen und verbringen können, aber was soll's. Nach dem Flug in einer sehr geräumigen Boeing 747, bei dem ich mir mit Sicherheit eine Erkältung geholt habe - Danke für Nichts, Klimaanlage -, dem Passieren der Sicherheitskontrollen - wie soll ich bitte, wenn ich bereits in ein Flugzeug gelangt bin, gefährliche Gegenstände mit mir führen, wenn ich dieses verlasse? Danke für Nichts, Sicherheitsbestimmungen, Massenhysterie und 9/11 - und dem entnervenden Warten auf meinen Rucksack verließ ich orientierungslos suchend den Flughafen. Sollte mich nicht jemand von FSL India abholen? Als ich drauf und dran war, die Reihe der vor dem Ausgang wartenden Taxifahrer und Chauffeure ein zweites Mal abzugehen, in der Hoffnung, dieses Mal eher jemanden zu erblicken, der auf mich warten könnte, rief mich tatsächlich eine Stimme: "Mister? FSL India?", und hielt ein laminiertes Schild hoch, auf dem, bereits ziemlich abgenutzt, der Name der Partnerorganisation, bei der ich meinen Freiwilligendienst verbringen soll, stand. Ich ging zu ihm, reichte mir die Hand und fragte "Felix Schäfer?". Als ich dies bejahte, bedeutete er mir, ihm zu folgen. Wir erreichten ein für deutsche Verhältnisse bereits recht ramponiertes Taxi, in das ich meine Sachen lud und einstieg. In dem Taxi kamen mir kurzzeitig erste Zweifel, ob dies denn auch so richtig sei - vor meinem inneren Auge spielte sich bereits ein Entführungsdrama mit mir in der Hauptrolle, ab -, doch ich beschloss, den Dingen ihren Lauf zu lassen und abzuwarten. Diese Gedanken waren, rückblickend betrachtet, meiner falschen Erwartungshaltung zuzuschreiben: Zum Einen war ich davon ausgegangen, mit den zehn anderen Freiwilligen, mit denen ich mein Orientation Seminar in Kundapur an der Westküste Karnatakas zu fliegen, wobei mir schon am Frankfurter Flughafen und während des Fluges in den Sinn kam, ich würde alleine anreisen, und zum Anderen hatte ich erwartet, jemand Offizielles von der Organisation würde mich begrüßen, nicht ein zwischengeschalteter Taxifahrer, in dessen Fahrzeug ich von alleine wohl nie gestiegen wäre. Wir fuhren nun also - es war mittlerweile halb drei Uhr nachts vorbei - durch die dunklen, aber nicht sehr ruhigen Straßen der drittgrößten Stadt Indiens.
Bereits auf dieser überraschend langen Fahrt ließen sich einige Beobachtungen machen. Erstens: Der Inder hupt gerne und viel, ähnlich wie in Italien gehört Hupen fast schon zum guten Ton, allerdings sind die nächtlichen Straßen Italiens wenig befahren im Vergleich zu zumindest denen Bangalores. Zweitens: Auf den großen Straßen, auf denen man tatsächlich bis zu 80 Stundenkilometer fahren darf, gibt es keine Überholspur. Alle Spuren sind eine Überholspur, wenn vor dir plötzlich ein deutlich langsameres Tuk-Tuk oder ein bis obenhin mit Zementsäcken beladener LKW auftaucht. Besonders spannend wird der Verkehr, von dem ich ja doch nur die nächtliche Seite gesehen habe - ich mag mir nicht ausmalen, wie die gleichen Straßen bei Tag befahren werden -, wenn ein Sattelschlepper unmittelbar hinter einer Highway-Ausfahrt feststellt, dass er die falsche genommen hat und langsam, aber sicher, rückwärts zurückrollt, um abfahren zu können, oder jedes Fahrzeug innerhalb von wenigen Sekunden aufgrund von bewusst platzierten Bodenwellen von 80 auf nur einige wenige km/h herunterbremsen muss, sodass man das Gefühl hat, der nächste Auffahrunfall stehe unmittelbar bevor. Ebenfalls sehr schön fand ich eine Kreuzung der Art, dass mehrere, ich denke es waren fünf oder sechs, mehrspurige Straßen zusammentrafen. Statt dass der Verkehr durch Ampeln oder wenigstens Fahrbahnmarkierungen geregelt würde, konnte ich nur ein Rautenmuster auf der Kreuzung erkennen, was wohl so viel heißt wie "Jeder darf nach seinem Gusto verfahren". Eine dritte Beobachtung war die, dass anscheinend auch Nachts auf Baustellen munter weitergearbeitet wird. Überhaupt waren für halb drei Uhr morgens erstaunlich viele Menschen auf den Beinen. Unzählige überdimensionierten Werbetafeln säumen den Straßenrand und rasant wechseln die Bausubstanzen - zwischen Bauruinen und Rohbauten findet sich ein alter Tempel, an der nächsten Ecke hingegen ein riesengroßer abgesperrter Gebäudekomplex, der den geschlossenen Nachbarschaften der Reichen in Lateinamerika ähnelt, daneben ein Krankhaus, umgeben von Wellblechhütten. Gegen Viertel nach Drei erreichten wir schließlich das Guest House, in dem ich sehr warm empfangen wurde. Allerdings schlief ich nicht lang und und auch nicht wirklich gut, denn bereits gegen acht wurde ich für das Frühstück geweckt und das Bett war ungewöhnlich hart. 
Seitdem habe ich überwiegend versucht, die Zeit totzuschlagen, damit ich morgen Abend weiter nach Kundapur reisen kann und von da aus, am Ende der nächsten Woche schließlich, nach Chennai, wo mich mein Projekt erwarten wird. Ich bin sehr gespannt auf das, was kommen mag, auch wenn ich mir noch nicht wirklich vorstellen kann, was das sein wird. Zumindest soweit ich das beurteilen kann, hat sich meine Vorstellung von Indien als ein Land des Chaos und als ein Land, welches dem eigenen kulturell so fremd ist, wie nur wenig andere, weitestgehend bestätigt. Aber gleichzeitig ist es auch spannend zu sehen, wie andere mit dem Leben umgehen, wie freundlich viele sind und wie man sich selbst in so einer Situation verhält. Nun wird es bereits dunkel, es ist 18.45 Uhr, in Deutschland beginnt gleich die Bundesliga. Ich freue mich darauf zu erleben, was dieser Freiwilligendienst für mich bereithält.