Montag, 24. Juli 2017

Woche Sechzehn: Time to say goodbye

Mit dem heutigen Tag istt meine letzte Woche hier in Indien angebrochen. Zwei Tage verbleiben mir noch im Projekt, bevor meine beiden Mitfreiwilligen, Joelle und Luca, und ich nach Bangalore aufbrechen, weil für sie eine Quarter Time Evaluation ansteht. Dieser Evaluation werde ich nicht beiwohnen dürfen, aber dennoch dachte ich, es wäre schöner, gemeinsam die Strecke, die ich über kurz oder lang ja sowieso werde zurücklegen müssen, da am 31. Juli um 3.00 Uhr morgens mein Flug von Bangalore zurück nach Frankfurt geht, zu reisen und noch ein paar letzte Tage gemeinsam zu verbringen. Vorbereitungen muss ich kaum noch welche treffen, die Tasche ist nahezu vollständig gepackt, die letzten Reisegeschenke besorgt und nur das Fragen nach den Rezepten indischer Gerichte steht noch an.

Der Sri Varadharaja Perumal-Tempel in Kanchipuram

So viel zur kommenden Woche. In der vielen Zeit, die ich hatte, hab ich natürlich häufig darüber nachgedacht, wie ich mich nach meiner Rückkehr verändert haben werde, ob und wie ich an den Herausforderungen gewachsen sein werde, welche Erfahrungen ich gemacht haben werde, aber auch, welchen Einfluss ich auf die Menschen ausgeübt haben werde, denen ich begegnet bin, ob in meiner Gastfamilie, im Projekt oder auf der Straße. Habe ich mich als Gast korrekt verhalten oder werden es neue Freiwillige schwer haben, weil ich mich falsch verhalten und somit ein negatives Bild von (deutschen) Freiwilligen geboten habe? Ist meine Gastfamilie nach den Erfahrungen überhaupt bereit, neue Freiwillige aufzunehmen, waren Luca und ich doch die ersten? Hab ich eventuell ihr Interesse an fremden Ländern und Menschen, was sehr schön wäre, geweckt?

Kmasutrra-Reliefs im 100-Säulen-Mandapam
Nun, ich bin sicher, mich zumindest nicht allzu falsch verhalten zu haben, sodass ich zuversichtlich bin, dass meine Familie neue Freiwillige aufnehmen wird (allerdings muss ich noch erfragen, ob dies schon zur nächsten Sommerausreise, die quasi mit meiner Abreise in das Land kommt, der Fall ist), und diese auch die Möglichkeit erhalten, sich wohlzufühlen. Jedoch habe ich wenig Hoffnung, dass aus meinen Gasteltern die nächsten Globetrotter werden (übertrieben ausgedrückt), denn von den wirtschaftlichen Gesichtspunkten einmal abgesehen, die das Bereisen fremder Länder für Nichteuropäer verdammt schwierig machen, und weshalb wir uns aufgrund unserer Privilegiertheit diesbezüglich wirklich glücklich schätzen können, glaube ich nicht, dass die Fremde überhaupt einen Reiz auf sie ausübt. Sie wirken zufrieden in ihrer kleinen Welt, deren Grenzen hinter Chennai enden. Auch meinem älteren Gastbruder würde ich dergleichen nicht zutrauen, in der Tat habe ich in den vergangenen vier Monaten nicht einmal erlebt, dass er überhaupt für ein paar Tage nicht da war, aber es wäre ja auch zu unbequem, auf die Privilegien des Erstgeborenen verzichten und sich stattdessen an neue Gepflogenheiten anpassen zu müssen. Einzig mein jüngerer Gastbruder, Abu, der für FSL arbeitet und die treibende Kraft dahinter gewesen ist, uns zu beherbergen, wirkt, als könne er es kaum erwarten, die Welt zu sehen. Ihm würde ich es zutrauen, mal nach Deutschland zu reisen, was mich sehr freuen würde. Generell hab ich den Eindruck, dass die beiden Brüder unterschiedlicher kaum sein könnten, trotz ähnlicher Voraussetzungen. Auf der einen Seite Sudharshan, der ältere, 33, bereits verheiratet, hat kürzlich seine Doktorarbeit in „Social Work“ abgegeben. Er gibt den Vorsänger in der Kirche, sieht gerne fern und lässt sich gerne bedienen. Zwar spricht er Englisch, doch kommuniziert er höchst selten mit mir und auch dann eher in einem grummeligen Unterton. Kurz, er macht einen eher griesgrämigen Eindruck. Auf der anderen Seite Ambedkar, genannt Abu, 29, der für FSL mit überwiegend koreanischen Freiwilligen arbeitet, eher zurückhaltend ist, gelegentlich den Gottesdienst schwänzt, seine hinduistische Freundin vor seinen Eltern verheimlicht und einem immer mit Rat und Tat beiseite steht, wenn er nicht gerade wochenlang für FSL unterwegs und somit faktisch „verschollen“ ist, weil seine Familie keine Idee hat, wo er sich gerade aufhält. Aber all das ist nicht schlimm, denn sie alle sind sehr gastfreundliche und herzliche, und ich bin mir sicher, wenn da die Sprachbarriere nicht wäre, hätte ich sicherlich noch mehr schöne Momente mit meiner Familie verbringen können, was ich im Nachhinein etwas schade finde.

Meine Gastfamilie (bis auf die Außen stehenden Kinder, die sind aus der Nachbarschaft)
Auch wenn es nicht immer danach geklungen haben mag, ist Indien ein großartiges Land. An jeder Ecke gibt es etwas neues zu entdecken, jeder Landstrich hat eine eigene Geschichte, eigene Dialekte oder gar Sprachen und eigene kulturelle Eigenschaften. Darauf sind viele Inder, denen ich begegnet bin, sehr stolz. Im Falle der Tamilen lässt sich das daran erkennen, dass ihre politischen Parteien lange Zeit für die Gründung einer von Indien unabhängigen dravidischen Union eintraten und sich die moderne Legende hält, der indische Premier Modi habe ausgesagt, Tamil sei „die schönste Sprache Indiens“, was mir doch etwas übertrieben vorkam. Übrigens wurde die dravidische Union nur von tamilischen Politikern gefordert, in anderen dravdischen Staaten fand die Idee hingegen wenig Anklang.

Dass es für mich nun bald nach Hause geht, betrachte ich mit einem lachenden und einem weinenden Auge: Es gibt noch so vieles für mich zu entdecken, der indische Subkontinent bietet alleine genug Orte, die eine Reise wert sind, um ihn ein bis zwei Jahre ununterbrochen zu bereisen. Aber ich freue mich auch schon unheimlich auf zu Hause, auf die Menschen, die mir etwas bedeuten, darauf, wieder Musik machen zu können und nicht immer nur Reis zu essen und auf gemäßigtere Temperaturen. Und nicht zu vergessen, die Pünktlichkeit der Deutschen Bahn.

Achja, und keine Sorge, ein ausführlicheres Résumé wird folgen, sobald ich wieder im „wunderbaren Deutschland“ bin.

Der Herr der Fliegen (und Kälber)

Montag, 10. Juli 2017

Woche Vierzehn: Die tamilische Küche

Nun da sich mein Aufenthalt in Indien langsam dem Ende zuneigt, möchte ich von der tamilischen Küche erzählen, die einen großen Teil der tamilischen Kultur ausmacht und eine wichtige Rolle im Alltag spielt.

Idli mit Kokoschutney und Sambar

Kommen wir zuerst zu den Räumlichkeiten, in denen – in der Regel – die tamilische Hausfrau das Essen für die Familie vorbereitet. Tatsächlich habe ich nur wenige Male meinen Gastvater in der Küche stehen sehen, und selbst das dürfte eher die Ausnahme darstellen, da dieser bereits pensioniert ist und somit viel Zeit besitzt, um sich derartigen Aufgaben zu widmen. Von meinem älteren Gastbruder habe ich solches noch nie erlebt, er nimmt in der Tat in der Familie eher die Rolle eines kleinen Paschas ein, und selbst mein jüngerer Gastbruder verbringt wenig Zeit in der Küche, wobei eingewandt werden muss, dass dieser viel unterwegs ist und somit wenig Zeit hätte, sich um das Essen zu kümmern, würde er dies wollen. Im Gegensatz dazu steht meine Gastmutter einen beträchtlichen Teil ihrer Zeit am Herd, von ihrem Mann nur im Schnippeln von Gemüse unterstützt. Kurz gefasst, Kochen ist, wie das Schmeißen des Haushalts allgemein, in Tamil Nadu Frauensache, und nicht selten sorgte es für Verwunderung,wenn Luca seiner Absicht kundtat, in der Küche helfen zu wollen.

Ein Dosai mit Kartoffelcurry, Kokoschutney und Sambar

In der Küche befindet sich bemerkenswerter- und für mich überraschenderweise kein Ofen, sondern in der Regel nur ein Gasherd, auf dem alle Gerichte zubereitet werden. Diese Tatsache und der Wunsch nach im Ofen Gebackenem ließ bereits in vielen Freiwilligenhirnen die Idee reifen, selbst einen Ofen zu bauen. Allerdings war meines Wissens noch niemand mit der Durchführung dieses Plans erfolgreich. In den umliegenden Schränken sind Teller, Becher, Töpfe, Dosen in einem wilden Durcheinander gesammelt, wobei der große Teil aus Blech ist. Ebenso findet sich kein Besteck, da in Indien mit der rechten (und ausschließlich mit der rechten!) Hand gegessen wird. Dies sorgte nicht selten für höllische Schmerzen, wenn das Essen direkt aus dem Topf auf den Teller kam, ohne vorher abzukühlen. Die meisten der Zutaten werden nicht gelagert, sodass der Kühlschrank aus meiner Sicht erstaunlich leer ist. Dazu muss aber gesagt werden, dass, abgesehen von Milch und eventuell Joghurt, keine Zutaten verwendet werden, die schlecht werden können, da die Gerichte zum einen quasi nur aus Gemüse bestehen und zum anderen in der Regel jeden Morgen direkt auf dem Markt gekauft werden.

Womit wir auch schon beim eigentlichen Thema wären: Den Gerichten und ihren Zutaten. Absolute Grundlage tamilischer Gerichte ist, wie eigentlich überall auf dem Subkontinent, Reis. Er ist im Prinzip, mit wenigen Ausnahmen, Bestandteil jeder Mahlzeit. Das klingt jetzt erst einmal sehr monoton und wenig abwechslungsreich, allerdings bin ich bis heute überrascht, auf wie viele unterschiedliche Arten Reis zubereitet und serviert werden kann.

Poori mitsamt Kartoffelcurry

Fangen wir an mit dem Frühstück. Dies besteht in der Regel aus Idli oder Dosai, die mit unterschiedlichen Chutneys gereicht werden. Gelegentlich gibt es auch Chapati, Poori oder Vadai. Idli und Dosai werden beide aus einem Gemisch aus Reis, Urdbohnen und Wasser hergestellt, das gemahlen und dann über Nacht stehen gelassen wird, damit es fermentiert. Idli sehen dabei aus wie kleine Küchlein, die die Form eines Elipsoids haben. Dosai hingegen sind letztlich wie Crêpes, nur aus dem oben beschriebenen Gemisch. Normalerweise werden sie mit Kokoschutney serviert, doch gibt es auch bei Chutneys eine hohe Vielfalt an unterschiedlichen Geschmacks- und Zubereitungsarten. Chapati, Poori und Vadai werden aus Mehl hergestellt. Chapati kommen dabei Crêpes noch näher als Dosai, wobei sie eher mit der herzhafteren Variante, den Galettes, zu vergleichen sind. Sie kann man zu allem servieren, wobei sie besonders in Kombination mit einem pikanten Kartoffelcurry ausgesprochen lecker sind. Poori sind sehr dünn gebackene Fladenbrote, die ebenfalls sehr gerne mit genanntem Kartoffelcurry kombiniert werden. Vadai dagegen sind Donuts ähnliche, frittierte Teigringe, die sich vor allem gut als Snack machen.

Chicken Biryani

Ein typisches Mittag- oder Abendessen besteht tatsächlich überwiegend aus Reis als Hauptspeise, der mit diversen Saucen wie Sambar, einer dicken Gemüsebrühe, oder Rasam, das deutlich dünner ist. Nicht selten gibt es auch Biryani oder Veg. Fried Rice, die sich in der Zusammensetzung sehr ähnlich sind. Biryani wird jedoch etwas anders gewürzt und meines Wissens zumindest in meiner Gastfamilie aus einer anderen Art Reis gemacht. In der Regel gibt es dazu Geflügel oder Lamm, seltener wird Biryani mit Ei oder vegetarisch gegessen. Fleisch insgesamt spielt im Verzehr nur eine untergeordnete Rolle, je nach Glauben wird gar nicht bis wenige Tage in der Woche, meist am Wochenende, Fleisch konsumiert. Dabei gilt es aber zu beachten, dass Fleisch in Indien weniger ein alltägliches Konsum-, als vielmehr ein Luxusgut ist, dessen Verzehr eine Besonderheit darstellt.

Getrunken wird überwiegend Wasser, wobei man sich vor Leitungswasser in Acht nehmen muss, da dieses häufig nur unzureichend bis gar nicht gereinigt ist und so Keime überträgt. Aus diesem Grund stehen in vielen Häusern Umkehrosmose-Geräte, die das Trinkwasser filtern. Da diese jedoch nicht gerade billig sind, werden weiterhin 20-Liter-Kanister mit abgepacktem Wasser verkauft, die im Haus aufgestellt werden. Zwischen den Mahlzeiten wird dagegen recht häufig Kaffee getrunken, der allerdings, wie alle gesüßten Lebensmittel in Indien, viel zu süß ist. Seltener gibt es Tee (Chai), der vor allem in den anderen Staaten Indiens verbreitet ist, sich in Tamil Nadu jedoch deutlich geringerer Beliebtheit erfreut.


Sambar

Von all diesen Gerichten habe ich besonders Biryani, Dosai und Chapati ins Herz geschlossen, wobei ihr Genuss steht und fällt mit den Beilagen, mit denen sie serviert werden. Hierbei sind insbesondere das Kokoschutney und das Kartoffelcurry erwähnenswert. Diese Rezepte hoffe ich natürlich, nach Deutschland mitnehmen und dort nachkochen zu können.

Samosa

Montag, 26. Juni 2017

Woche Zwölf: Pondicherry – Au bord de la mer

Relativ spontan entschloss ich mich in der vorletzten Woche, für ein paar Tage nach Pondicherry, vier Stunden südlich von Chennai gelegen, zu fahren. Dies hatte ich eigentlich für Ende Juni vorgesehen; aufgrund der Tatsache, dass die Freiwilligen der letzten Sommerausreise bereits kommenden Freitag nach Deutschland zurückkehren, änderte ich meinen Plan jedoch kurzfristig, denn einerseits wollte ich gerne die Gelegenheit nutzen, um weitere Freiwillige kennenzulernen und von ihren Erfahrungen zu hören, andererseits hatte ich wenig Lust, die Tage alleine zu verbringen und mir alleine ein Hotelzimmer nehmen zu müssen. So kam es, dass ich in den Morgenstunden des 17. Juni aufbrach, um das Unionsterritorium zu erreichen.

Der ganze Weg kostete mich in etwa acht Stunden, da ich nicht nur den Bus nach Pondicherry, der alleine etwa vier Stunden brauchte, nehmen musste, sondern erst einmal zum zentral in Chennai gelegenen C.M.B.T. (das steht für Chennai Mofussil Bus Terminus und bezeichnet den größten Busbahnhof Asiens), von dem die Fernbusse fahren, gelangen musste und schließlich, kaum in Pondicherry angekommen, bereits wieder einen Bus raus aus der Stadt nehmen musste, um zu meinem Zielort zu gelangen. Dort, in einem kleinen Ort namens Thazhuthali, etwa eine Stunde außerhalb von Pondy, wurde ich von Louis empfangen. Louis ist seit vergangenem August hier und hat diese Zeit zusammen mit einem weiteren Long Term Volunteer in der Sristi Foundation (https://m.facebook.com/sristifoundation/) verbracht. Diese liegt etwa drei Kilometer von Thazhuthali entfernt und Ziel ist es, geistig eingeschränkten Menschen einen Platz zum Wohlfühlen anzubieten, an dem sie gleichzeitig etwas über Ackerbau und andere Dinge lernen, sodass sie idealerweise irgendwann in der Lage sind, sich etwas selbstständiger in die Gesellschaft zu integrieren. Louis zeigte mir das pink house, in dem jeweils die Freiwilligen von Sristi untergebracht sind und wir hatten eine angenehme Unterhaltung, in dem wir uns über FSL, andere Freiwillige und Indien allgemein austauschten. Etwas später machten wir uns zu Fuß auf den Weg zum Projekt, das wir nach einem gut halbstündigen Fußmarsch erreichten. Dort wurden wir sogleich freudig von den Bewohnern und Mitarbeitern sowie einigen Hunden empfangen, denn Louis war selbst erst am Samstagmorgen von einer Reise zurückgekehrt und deshalb das erste mal seit zwei Wochen wieder in Sristi. Dort aßen wir dann zu Abend und verbrachten auch die Nacht.



Wie bereits angedeutet, ist Sristi eine Farm, die aus etwa 9 acre Land besteht. Der Projektgründer hat selbst als junger Erwachsener in einem Waisenhaus gearbeitet und dies sogar einige Zeit geleitet, wo er feststellte, dass sowohl behinderte als auch nicht-behinderte Kinder zwar zusammen spielen und es nur wenige Konflikte gibt, sobald diese jedoch älter werden die nicht-behinderten nun jungen Erwachsenen das Waisenhaus verlassen, eine Ausbildung machen und eine Familie gründen, die behinderten jungen Erwachsenen jedoch entweder im Waisenhaus bleiben, oder auf der Straße landen. Es gibt also keine staatlichen Auffangmöglichkeiten für diese Menschen, die nur schwer an Arbeit gelangen und für die ein selbstständiges Leben häufig nicht problemlos möglich ist. Aufgrund dieser Beobachtung und der Erfahrung, wie das Wachstum und die Pflege von Pflanzen einen behinderten Jungen in dem Waisenhaus positiv veränderte, beschloss er, Sristi zu gründen. Bis dahin war es ein weiter, nicht komplikationsloser Weg, doch seit gut drei Jahren ist das Projekt so weit fortgeschritten, dass Menschen auf der Farm leben und arbeiten können. Ich selbst war und bin immer noch zutiefst beeindruckt, was für eine schöne Atmosphäre in Sristi herrscht und mit wieviel Empathie sich seine Bewohner begegnen. Es hat mich gefreut, Louis davon erzählen zu hören, wie sehr ihm das Projekt ans Herz gewachsen ist und zu sehen, was für einen enormen Einfluss seine Arbeit auf die Farm gehabt hat. Im Gegensatz zu den Erfahrungsberichten vieler anderer Freiwilliger ist dies ein wirklich herausragendes positives Beispiel dafür, wie es laufen kann, wenn man seinen Freiwilligendienst in Indien absolviert. Sogar andere Freiwillige nutzten ihre verbliebenen Tage vor dem End Stay, um in Sristi zu helfen.



Ich hingegen war gekommen, um mir Pondicherry anzuschauen, entsprechend brach ich Sonntag nach dem Frühstück auf, um in die Stadt zu fahren. Die Stadt, lange Zeit Zentrum Französisch-Indiens und heutzutage bedeutendster Ort des Unionsterritorriums Puducherry, besitzt aufgrund seiner kolonialen Vergangenheit eine einzigartige Mischung aus kolonialfranzösischer und indischer Architektur. Das an der Küste gelegene French Quarter bildet den historischen Kern der Stadt, was für sich genommen bereits ein Alleinstellungsmerkmal ist, denn nirgendwo sonst lässt sich in Indien ein Stadtzentrum ähnlich von denen in Europa ausmachen. Hier befinden sich die bedeutendsten Einkaufsstraßen, Hotels, Cafés, aber auch eine französische Schule und sogar ein französisches Konsulat. Das Viertel lädt zum Verweilen ein, denn in seinen Straßen ist es erstaunlich ruhig, was eine angenehme Abwechslung zum indischen Teil der Stadt darstellt, durch den man gelangen muss. Trotz seiner nur relativ geringen Einwohnerzahl von „nur“ 240.000 ist Pondicherry nämlich eben auch eine typisch indische Stadt mit Verkehrslärm, Müll Chaos, wobei ich sagen muss, dass ich noch keine so saubere Stadt in Indien gesehen habe, wie Pondicherry. Auffällig waren alllerdings die vielen liquor stores im Stadtbild, die aber ihre Daseinsberechtigung darin haben, dass die Alkoholsteuern im Vergleich zu Restindien (abgesehen von Goa) sehr niedrig sind, weshalb Alkoholtourismus und -schmuggel ebenfalls an der Tagesordnung sind. Mein Sonntag bestand größtenteils daraus, besagtes French Quarter zu durchwandern; ich spazierte über den Sunday Market, aß ein Eis an der Uferpromenade oder verbrachte die Zeit im Bharatihi Park im Schatten der Bäume. Am späten Nachmittag kehrte ich ins pink house zuück, wo wir es uns bei selbstgemachten Pommes Frites gutgehen ließen.


Am nächsten Tag fuhr ich nach Auroville, dass sich ein Stück nördlich von Pondicherry befindet. Auroville ist eine hauptsächlich von Mira Alfassa , die zu dem Zeitpunkt den Sri Aurobindo Ashram in Pondicherry leitete, geplante, auf der Gesellschaftstheorie von Sri Aurobindo basierende „universelle“ Stadt, die 1968 eingeweiht wurde. In einer Gründungscharta schrieb Mira Alfassa ihre Vision von Auroville nieder:
  1. Auroville gehört niemandem im besonderen. Auroville gehört der Menschheit. Aber um in Auroville zu leben, muss man bereit sein, dem Göttlichen Bewusstsein zu dienen.
  2. Auroville wird der Ort des lebenslangen Lernens, ständigen Fortschritts und einer Jugend sein, die niemals altert.
  3. Auroville möchte die Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft sein. Durch Nutzung aller äußeren und inneren Entdeckungen wird Auroville zukünfigen Verwirklichungen kühn entgegenschreiten.
  4. Auroville wird der platz materieller und spritueller Forschung für eine lebendige Verkörperung einer wirklichen menschlichen Einheit sein.
Stand heute leben dort etwas mehr als 2700 Einwohner aus über 50 Nationen, wobei das ganze Konzept der Stadt auf 50.000 Einwohner ausgelegt ist. Im Zentrum der Stadt befindet sich der sogenannte Matrimandir, der „Tempel der Mutter“, der als spiritueller und sakraler Hauptort der Anlage dient. Von diesem weg soll sich der Rest der Stadt in Form einer Spiralgalaxie erstrecken. Bis heute sind jedoch erst Teile des Landes, das für den vollständigen Ausbau Aurovilles vorgesehen ist, erworben worden. Grundlage des Zusammenlebens ist der Gedanke, gegen Mithilfe am Gemeinwesen einen monatlichen Unterhalt zur Bestreitung der Lebenshaltungskosten zu erhalten. Weitere Konzepte, wie die Nichtnutzung von Geld konnten allerdings nicht verwirklicht werden. Alles in allem muss ich sagen, dass mich die Anlage und die dahinter stehende Grundidee zutiefst beeindruckt hat. Allerdings nimmt die von Sri Aurobindo entwickelte yogische Lehre einen überaus großen Stellenwert ein, ebenso wie die Verehrung der „Mutter“ Mira Alfassa, sodass gelegentlich der Eindruck entsteht, es fast schon mit einer Sekte zu tun zu haben. Der Ort hat sich zu einer Anlaufstelle für Aussteiger allerlei Art entwickelt, was auch den hohen Anteil an Franzosen und Deutschen an den Bewohnern erklärt. Da ich gestehen muss, selbst kein sehr spiritueller Mensch zu sein, fand ich die Atmosphäre hin und wieder auch befremdlich.



Nach meiner Rückkehr nach Thazhuthali fuhr ich am Dienstag noch einmal nach Pondicherry und besichtigte dort den Sri Aurobindo Ashram und das Pondicherry Museum. Im besagten Ashram lebte und lehrte der bengalische Agitator und Mystiker Sri Aurobindo ab 1910 nach seinem Gang ins Exil, da er wegen seines Engagements für die indische Unabhängigkeit wiederholt in Konflikt mit den britischen Behörden geraten war. In den Jahren zuvor hatte Aurobindo, der seine Bildung in Großbritannien erhalten hatte, sich immer mehr der hinduistischen Mystik zugewandt, auf deren Grundlage er schließlich seine eigene Philosophie entwickelte, den „Integralen Yoga“. Nachdem er sich bereits 1926 weitestgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte und mit seinen Schülern nur noch über Briefwechsel kommunizierte, verstarb er Ende 1950 im Ashram, in dem er und auch Mira Alfassa, die lange Zeit seinen „Haushalt“ (nichts anderes bedeutet „Ashram“) führte, beigesetzt sind. Der Kult um diese beiden Personen nahm hier noch ausgeprägtere Züge an, am Grabmal der beiden fand ich unzählige Menschen meditierend vor. Gleichwohl muss ich anmerken, dass der Ashram auch ein Ort von beeindruckender Ruhe ist und man sich gut vorstellen kann, wie Sri Aurobindo hier die Grundsäulen seiner Lehre entwickelte.


Das Pondicherry Museum wartet dagegen mit weit weniger spektakulärem Hintergrund auf, aber doch besitzt es einige sehenswerte Exponate. Allerdings machte die Sammlung, um es mit Louis' Worten auszudrücken, den Eindruck, als haben „die Museumsgründer bei der Zusammenstellung der Exponate ordentlich ihren Dachboden entrümpelt“. Unter anderem fanden sich dort Relikte, die den Handel mit den Römern nachweisen sollen (es scheint, als habe halb Indien mit den Römern Handel getrieben, mag man den Museen Glauben schenken), Funde aus einer nahegelegenen Ausgrabungsstätte, koloniale Waffen, internationale, historische Münzen und Bronzeplastiken. Auch wenn die Sammlung im Vergleich zum Government Museum in Chennai klein war, so hat sich der geringe Eintrittspreis doch alleine deswegen gelohnt, um eins der Kolonialgebäude einmal von Innen betrachten zu können.



Am Mittwoch schließlich machte ich mich auf den Heimweg zurück nach Chennai, dass ich auch am frühen Nachmittag erreichen sollte. Ich muss sagen, dass Pondicherry mir sehr gefallen hat, gerade weil sie keine „typisch indische“ Stadt ist, sondern Elemente aus unterschiedlichen Kulturkreisen vereint, was typisch nicht nur für die Architektur, sondern für die Mentalität der Stadt im Allgemeinen zu sein scheint.


Samstag, 10. Juni 2017

Woche Zehn: Ausflug nach Mahabalipuram

Bereits am Sonntag der vorvergangenen Woche, dem 28. Mai, unternahmen wir, nachdem wir den allwöchentlichen Sonntagsgottesdienst hinter uns gebracht hatten, einen Ausflug in den kleinen Küstenort Mahabalipuram/Mamallapuram, kurz „Mahabs“, der sich etwa 55 Kilometer südlich von Chennai befindet. Zu viert waren wir rund zwei volle Stunden auf dem Motorrad unterwegs, um nach Mahabs zu gelangen. Dies war aufgrund der etwas anderen Begleitumstände (ich trug bei bis zu 80 Stundenkilometern keinen Helm) zwar sehr abenteuerlich und auf Dauer auch sehr anstrengend, gerade für mein Sitzfleisch, aber andererseits führte uns unsere Route fast einmal komplett an Chennai vorbei, was ich sehr interessant fand und wobei ich viel zu sehen bekam: Einsame Tempel auf Hügelkuppen, ausgetrocknete Seen, hochmoderne IT-Zentren und vor allem ohne Ende sich im Bau befindende Hochhäuser, deren Rohbauten wie Skelette ausgestorbener Riesenwesen den Horizont und den Rand der Straße säumten. Die Fahrt war alleine aufgrund dieser Aussicht und der vielfältigen und wechselnden Eindrücke lohnenswert.



Nach der sich am Ende doch hinziehenden Fahrt erreichten wir schließlich unser Ziel: Den bedeutendsten Hafen der Pallava-Zeit aus dem 7. nachchristlichen Jahrhundert. Bereits auf den letzten Kilometern waren wir an auffallend vielen Hotelanlagen und Ferien-Ressorts vorbeigefahren, die von Mahabalipurams mittlerweile hoher Popularität als Ausflugs- und Urlaubsziel profitieren möchten. Und in der Tat, neben seiner, ähnlich wie Hampi, hohen Dichte an alten Gemäuern kann der Ort mit beeindruckenden Sandstränden aufwarten. Im Vergleich zum Marina Beach, dem angeblich zweitlängsten Strand dieses Planeten, waren diese sogar ziemlich sauber, trotz einer ordentlichen Fülle an Besuchern.

Ebenfalls ähnlich wie in Hampi ist das Gebiet durch große, hochaufragende Granitfelsen geprägt. Viele der Anlagen, die zwar meist kleiner, dafür aber kunstvoller herausgearbeitet sind, sind in diese Granite gehauen, wo sie dann kultischen Zwecken dienten. Viele der Bauten, wie beispielsweise die „Pancha Rathas“ dienten wohl aber nicht der Verehrung von Göttern, sondern wurden gebaut, um mögliche Tempelstile zu entwickeln und zu veranschaulichen, da erst in der Pallava-Zeit ein Wandel von Höhlen- zu freistehenden Tempeln vollzogen wurde. So wurde die Gestaltung der Dachaufbauten wichtiger und es musste quasi „aus dem Nichts“ ein Stil kreiert werden. Diese Neuerungen schlugen sich letztlich im für Südindien so typischen Dravida-Stil mit seinen kunstvoll verzierten Gopurams nieder.




Die Pallava selber herrschten vom späten 6. bis zum ausgehenden 9. Jahrhundert über bedeutende Teile der heutigen Bundesstaaten Tamil Nadu, Andhra Pradesh und Karnataka. Hauptstadt war Kanchipuram, der Ort, an dem Luca und Joelle sich registrieren lassen mussten, etwa 85 Kilometer südwestlich von Chennai. Von Mahabalipuram aus trieben sie Handel mit der Malaiischen Halbinsel, Java und bis ins heutige Kambodscha. Bedeutend für die Nachwelt sind sie vor allem wegen ihrer kulturellen Leistungen. So befand sich die älteste und berühmteste Universität Indiens in Kanchipuram. Des Weiteren förderten sie die Sprachen Prakrit, Sanskrit und später Tamil, und waren für die in Mahabalipuram so omnipräsenten Steinskulpturen bekannt, sowie, wie bereits oben erwähnt, für ihre freistehenden Tempel, unter denen besonders der Küstentempel in Mahabs hervorzuheben ist.. Ihr Ursprung hingegen bleibt im Dunkeln. Einige Wissenschaftler verorten diesen nach Andhra Pradesh, andere nach Sri Lanka, wiederum andere sogar ins alte Persien.

Ebenfalls interessant ist eine alte Legende, nach der an der Küste zum Golf von Bengalen einst nicht nur einer, sondern insgesamt sieben Tempel standen, bis der Gott Indra die sechs tiefer gelegenen aus Eifersucht im Meer versenkt habe. Fischer erzählen sich, dass man noch heute die Spitzen der Dächer unter der Meeresoberfläche von Fischerbooten aus sehen könne. Bereits Marco Polo habe im 13. Jahrhundert die Stadt auf einer Karte vermerkt. Infolge der britischen Kolonialherrschaft, die u.a. in Madras ihren Ausgangspunkt nahm, wuchs das Interesse an der indischen Vergangenheit stetig und so rückte auch der Mythos von den Sieben Pagoden in das Blickfeld europäischer Abenteurer und Entdecker. Erst im Jahr 2004 jedoch, im Zuge des Tsunamis, der Weihnachten verheerende Verwüstungen im Indischen Ozean hinterließ, wurden vor der Küste liegende Gebäude freigelegt, die als Beweis für größere Tempelanlagen dienen. Ob diese im Zusammenhang mit der Erzählung von den Sieben Pagoden stehen, sei jedoch nicht gesichert.





Neben seiner reichen kulturellen Vergangenheit ist Mahabalipuram ebenfalls als ein Zentrum indischer Steinmetzkunst berühmt. Da war es nicht weiter überraschend, dass, da die Haupturlaubssaison, wie in vielen anderen Orten, auch hier jetzt vorbei ist, viele der Läden überwiegend Steinstatuen und Figuren unterschiedlichster Größen im Angebot hatten, von kleinsten Buddhas hin zu übermannsgroßen Ganeshas. Für mich selbst kaufte ich eine kleine Nataraja-Statue, die den Gott des Tanzes im kosmischen Flammenkreis zeigt.

Insgesamt lohnt sich ein Besuch in Mamallapuram allein schon wegen der vielen Tempelbauten, aber auch die Strände sind sehr sehenswert. Am meisten beeindruckt hat mich der Shore Temple, stark vom Stil aller anderen Tempel, die mir hier bisher unter die Augen gekommen sind, abweicht. Tatsächlich erinnert er von seiner Form her an eine buddhistische Pagode, wie es der Mythos beschreibt. Unglücklicherweise haben die Zeit, das Wetter und insbesondere das Salzwasser ihren Tribut gefordert, sodass viele Details nicht mehr zu erkennen sind. Auch scheinen die Strände bei indischen Touristen sehr beliebt zu sein, denn sie waren ausgesprochen voll. Im Wasser anzutreffen waren allerdings nur sehr wenige, sodass einer Abkühlung am Ende des Tages, bevor es in der einsetzenden Abenddämmerung nach Chennai zurückgehen sollte, nichts im Wege stand.




Mittwoch, 31. Mai 2017

Woche Achteinhalb: Der Mythos des Sisyphos

« La lutte elle-même vers les sommets suffit à remplir un cœur d'homme. Il faut imaginer Sisyphe heureux. » - Albert Camus, Le mythe de Sisyphe, p. 168

Mit dem heutigen Tag liegen genau acht Wochen und fünf Tage hinter mir, und noch einmal die gleiche Zahl an Tagen vor mir: Es ist Halbzeit meines 17-wöchigen Freiwilligendienst. Meines Erachtens Grund genug, ein Zwischenresümee zu ziehen. Dabei möchte ich vor allem versuchen, in Worte zu fassen, wie ich mich während der ersten Zeit gefühlt habe und wie sich dies zwischenzeitlich verändert hat.

Sonnenuntergang in Mahabalipuram.
Die ersten Wochen waren geprägt davon, neue Eindrücke zu sammeln, irgendwie zu versuchen, in diesem neuen, riesigen und chaotisch-fremden Land zurechtzukommen. Das empfand ich häufig als sehr stressig, gerade der tägliche Weg zum Projekt zählt bis heute nicht zu meinen Tages-Highlights. Ich merkte, wie die Flut an Sinneseindrücken, die an jeder Ecke neu auf mich einprasselte, seine Weile brauchte, um verarbeitet zu werden. In diesen Wochen wachte ich müde auf und ging früh zu Bett, ich schlief fest und viel. Die Gewöhnung an das Klima, an eine andere Art, gerade mit Zeit und Verpflichtungen umzugehen, an das Essen, kosteten mich einiges an Kraft und waren nicht einfach. Nichtsdestotrotz erlebte ich auch viel Schönes, das On-Arrival-Camp gehörte beispielsweise dazu. Wie ich bereits in einem anderen Blogeintrag erwähnte, wirkte das Community Center von FSL-India wie eine Oase der Stille und des Friedens, so viele weltoffene, aufgeschlossene und sich so vieler Dinge bewusste Menschen auf einem Fleck hab ich seitdem nicht mehr getroffen, ganz abgesehen davon, dass viele der Einheiten sehr aufschlussreich und informativ waren und wir es insgesamt dort sehr komfortabel hatten. Natürlich soll das ganze jetzt nicht heißen, dass mir solche Charaktereigenschaften seitdem nicht mehr begegnet sind, im Gegenteil, sie sind sogar recht häufig, aber man hat den Mitarbeitern von FSL doch recht deutlich anmerken können, dass sie unheimlich viel Erfahrung mit jungen Menschen aus allen Teilen der Welt haben, die mit einer gewissen Erwartungshaltung in dieses Land kommen, und dass sie wissen, wie sie diesen Übergang so leicht und reibungslos wie möglich gestalten. Gleichzeitig ist der Bild eines Europäers auf den Straßen für viele etwas so ungewöhnliches, sodass man häufig angesprochen wird, die Gespräche aber nicht verfangen oder man einfach nur angestarrt wird. Zudem fehlt ein breites Umweltbewusstsein, was ich in Kundapur als sehr ausgeprägt empfand, wodurch alle Erfahrungen danach dahingehend einen absoluten Kontrast bildeten. Nicht vergessen werde ich das On-Arrival-Camp auch deshalb, weil ich die Atmosphäre innerhalb unserer Freiwilligengruppe als sehr angenehm empfand und ich das Gefühl hatte, obwohl ich neu zur Gruppe hinzukam, gut aufgenommen worden zu sein.

Ein majestätisch über den Felsen thronender Löwe.

Nachdem man sich so langsam zurechtgefunden hatte, kehrte der erste Alltag ein. Einerseits beruhigte mich dies, da ich mich mittlerweile an so manches Ungewöhnliches gewöhnt hatte, jedoch bemerkte ich, nachdem der erste Stress und die Eingewöhnung vorüber war, wie wenig mich die Arbeit im Projekt häufig befriedigte. Sicherlich tut mir die Arbeit mit den Tieren an sich unfassbar gut, man kann sich viel Zeit nehmen zum Verweilen und Nachdenken, es ist die so viel gerühmte Entschleunigung. Andererseits habe ich den Eindruck, dass wir uns, da wir drei Freiwillige sind, häufig Aufgaben wegnehmen und es schwierig ist, jeden ausreichend zu beschäftigen. Spannend wird es sein zu beobachten, wie sich dies mit der französischen Freiwilligen, die in etwa zwei Wochen zu uns stoßen soll, verändern wird. Jeder, der mich kennt, weiß, dass ich tendenziell eher ein unruhiger, rastloser Mensch bin, der eine Beschäftigung benötigt, um nicht trüben Gedanken nachzuhängen. Leider ist dies viel zu selten der Fall. Nun habe ich mich jedoch dazu entschlossen, dies mit stoischem Gleichmut zu ertragen und das beste aus der Situation zu machen, weil ich die Dauer meines Freiwilligendienstes für zu kurz halte, als dass sich z.B. ein Projektwechsel lohnen würde. Allerdings gibt es auch gewisse Punkte, die mich nicht gerade in Glückseligkeit versetzen, ganz abgesehen von dem Mangel an Aufgaben. Da wäre beispielsweise das indirekt bereits angesprochene Umweltbewusstsein. Irgendwie verbinde ich mit einem Tierheim, dass es den Anspruch haben sollte, möglichst umweltschonend und nachhaltig zu operieren, da ein Nichteinhalten desselben zumindest in meiner Logik irgendwie den Gedanken konterkariert, den Tieren etwas gutes zu tun, zumindest, wenn man ihn zu Ende denkt. Denn was bringt es, den Hunden möglichst viel Auslauf zu lassen, wenn gleichzeitig überall Plastikmüllreste herumliegen. Die Krone setzt dem Ganzen meiner Meinung nach die Tatsache auf, dass die Mülleimer, die es tatsächlich gibt, letztlich doch irgendwann erst gefüllt und dann geleert werden, der Inhalt aber einfach auf einem Feld vor dem Tierheim verbrannt wird. Wenn man versucht, den Tieren im Heim etwas Gutes zu tun, aber nicht dazu beiträgt, dass sich die Situation außerhalb des Heims für die unzähligen anderen Straßentiere, die es hier in Indien nun mal gibt, zu verbessern, hat man sein Konzept meines Erachtens nicht zu Ende gedacht. Ich vermisse dabei die letzte Konsequenz. Vielleicht sollte man sich, allein aus praktischen Gründen, auch darüber Gedanken machen, Lampen und Ventilatoren auszuschalten, um Strom zu sparen oder möglichst wenig Wasser zu verschwenden; dies wären, neben dem Aspekt der Ressourcenschonung, einfache Mittel, Kosten zu sparen, was bei einem Projekt, dass sich ausschließlich durch Spenden finanziert, doch wünschenswert wäre, oder etwa nicht? Man muss dabei aber bedenken, dass dem ganzen auch enorme strukturelle Probleme zu Grunde liegen. Einrichtungen wie eine Müllabfuhr sind mir so, beispielhaft dafür, zutiefst selten unter die Augen gekommen, aber ebenso mangelt es an Mülleimern, Kläranlagen und der nötigen Bildung und Aufklärung in der Bevölkerung, um die Omnipräsenz des Mülls, ohne den man quasi keinen Blick mehr auf die Straße werfen kann, zu beseitigen.

Ein seltener Anblick: Rikscha im Regen.

Die trüben Gedanken, von denen ich oben sprach, sind ein ständiger Begleiter; mir fehlt hier so einiges. Die Diskussion beim Abendessen, die selbstgemachte Pizza am Freitagabend, ein eventuelles Glas Rotwein dabei, aber auch die Musik, das Fahrradfahren, der Regen (ja, das norddeutsche Schmuddelwetter fehlt mir tatsächlich!) und einfach die Präsenz mir vertrauter Menschen. Nicht selten fühle ich mich hier einsam, ohne jemanden, dem ich mich anvertrauen kann. Der Kontakt nach Hause über WhatsApp ist dabei nur ein schwacher Trost, denn wie viel mehr macht es aus, wenn eine Person physisch anwesend ist, statt nur digital, mit ihren Worten und Gedanken als Nachricht in einem Chat manifestiert. Ich muss auch gestehen, dass ich das Gefühl habe, weniger zu lachen, als sonst. Wahrscheinlich ist das ein Zeichen, dass ich mit vielem verkrampft umgehe, mich unbehaglich fühle, aber dass auch die gemeinsame Wellenlänge noch nicht so gefunden zu sein scheint.
Es ist paradox: Bin ich zu Hause, in vertrauter Umgebung, sehne ich mich nach der Ferne, danach, feststehende Gedanken und Meinungen aufzubrechen, zu revidieren und anzureichern mit Erfahrungen, neue Menschen kennenzulernen, andere Orte zu sehen, zu wachsen. Bin ich in der Ferne, so fehlt mir die Vertrautheit der Heimat, eine Mentalität, die ich einschätzen kann und die Bequemlichkeit von Zuhause. Vielleicht ist dieses Suchen nach dem richtigen Weg, der zur Zufriedenheit führt, das, was mir auferlegt ist, unabhängig davon, ob mir Erfolg vergönnt sein wird oder nicht. Dennoch werde ich guten Gewissens diesen Weg weitergehen und blicke gespannt darauf, was und wer mir in den nächsten achteinhalb Wochen widerfahren und begegnen wird.

Mit dem Zug von Avadi nach Hause. Lustigerweise ist Avadi ein Akronym, dass für Armoured Vehicles and Ammunition Depot of India steht und so den einzigen Produktionsstandort für Panzer in Indien benennt.






Sonntag, 21. Mai 2017

Woche Sieben: Die tamilische Sprache

In diesem Beitrag, der ausnahmsweise mal etwas kürzer sein wird, möchte ich mich der tamilischen Sprache widmen, ihren Ursprung und ihre Geschichte erläutern sowie einige Schriftzeichen und einfache Phänomene erklären. Grund des ganzen ist der, dass ich mich nun doch entschlossen habe, soweit möglich die Sprache zu lernen, allerdings muss ich da wohl noch ein bisschen bei meinem Gastbruder nachhaken, den ich darum gebeten hatte.
Tamil ist Teil der dravidischen Sprachfamilie, die auf dem Süden des Indischen Subkontinents verbreitet ist. Weitere verwandte Sprachen sind Telugu, Malayalam und Kannada, die in den jeweils angrenzenden Bundesstaaten gesprochen werden. Tamil selbst hat seine meisten Sprecher – logischerweise – mit etwa 63 Millionen in Tamil Nadu (was soviel wie „Land der Tamilen“ heißt), denn die Grenzen des damals noch unter dem Namen Madras fungierenden Bundesstaates wurden nach der indischen Unabhängigkeit, wie auch in den anderen Staaten, anhand der Sprachgrenzen festgelegt. Nichtsdestotrotz gibt es natürlich auch Sprecher der oben genannten Sprachen sowie Urdu in Tamil Nadu, ebenso wie es Tamil-Sprecher in Kerala, Karnataka und Andhra Pradesh gibt. Dazu ist Tamil anerkannte Amtssprache auf Sri Lanka (vielleicht sagen dem ein oder anderen die „Tamilischen Tiger“ etwas) und in Singapur sowie eine anerkannte Minderheitensprache in Malaysia, auf Mauritius und in Südafrika. Insgesamt gibt es weltweit rund 65 Millionen Menschen, die Tamil als Erst- sowie etwa 8 Millionen, die Tamil als Zweitsprache sprechen.

Wie ich bereits in einem anderen Beitrag geschrieben hatte, gibt es in Indien zwei große Sprachfamilien, die nicht miteinander verwandt sind. Die indogermanischen arischen Sprachen und die dravidischen Sprachen. Während sich der Weg der indoarischen Sprachen nach Indien relativ gut nachverfolgen lässt, ist der Ursprung der dravidischen Sprachen unklar, da unbekannt ist, ob sie in Indien autochthon sind oder von außerhalb nach dort gelangten. Sehr wohl gibt es zwar eine unter tamilischen Nationalisten weit verbreitete Idee, nach der die Tamilen vom versunkenen Kontinent Kumarikkandam stammten und dort die Wiege der der Menschheit liege (mit einem homo dravida als dem Urmenschen). Dieser Kontinent solle sich einst vom Kap Komorin (oder Kanyakumari auf Tamil) bis nach Madagaskar und Australien erstreckt haben. Sehr wohl lässt sich diese Behauptung, die auch durch die in Chennai ansässige Theoophische Gesellschaft (ein interessantes Thema für sich; zu empfehlen dazu Das foucaultsche Pendel von Umberto Eco) in esoterischen Kreisen weite Verbreitung gefunden hat, jedoch ins Reich der Legenden verweisen, wird allerdings immer noch dazu verwendet, um eine besondere Bedeutung des Tamil zu postulieren.

Insgesamt lässt sich konstatieren, dass die Tamilen ausgesprochen stolz auf ihre Sprache sind, so wurde uns vor etwa drei Wochen erzählt, der indische Premierminister Narendra Modi habe Tamil „zur schönsten indischen Sprache erklärt“. Um die Jahrhundertwende bildete sich die tamilisch-nationalistische „Dravidische Bewegung“ heraus, die für einen unabhängigen Dravidenstaat unter tamilischer Führung eintrat und sich gegen die gesellschaftliche Vorherrschaft der brahmanischen Priesterkaste wandte. Unter Einfluss dieser Bewegung wurden viele Lehnwörter aus dem Sanskrit, aus denen um 1900 die tamilische Schriftsprache zu etwa 50 Prozent bestand, durch Wortneuschöpfungen unter Bezugnahme auf das Alt-Tamilische ersetzt, sodass Mitte des Jahrhunderts nur noch rund 20 Prozent des Wortschatzes sanskritischen Ursprungs waren. Allerdings tun sich diese neuen Begriffe bis heute schwer gegen Lehnwörter aus dem Englischen, die mittlerweile weitverbreitet sind.

Als eine von nur sechs Sprachen hat das Tamil den offiziellen Status einer klassischen Sprache, was sich durch seine gut zweitausendjährige Geschichte erklären lässt. Daneben gilt es als von den arischen Sprachen am wenigsten beeinflusste dravidische Sprache, während z.B. in Kannada deutlich mehr Begriffe aus dem Sanskrit entlehnt sind.

Zudem existiert im Tamilischen eine überaus ausgeprägte Diglossie, Schrift- und Umgangssprache unterscheiden sich stark voneinander. Dabei neigt die Umgangssprache dazu, Wortendungen teils extrem zu verknappen und überhaupt die Struktur der Sätze und Wörter zu vereinfachen und sie mit englischen Begriffen anzureichern. Während die Schriftsprache, die darüber hinaus weitaus mehr Prestige besitzt, vor allem im Rundfunk, in der Literatur und bei wichtigen Anlässen zum Einsatz kommt, wird die Umgangssprache für die alltägliche Konversation verwendet (Wer hätte das gedacht?). Darüber hinaus sind auch die Dialekte dort deutlich ausgeprägter, wobei hier vor allem auf die Unterschiede zwischen den Dialekten Tamil Nadus und Sri Lankas zu verweisen ist. Dazu kommen Kastendialekte und Soziolekte, sodass sich die Situation ergibt, dass man schon im nächsten Dorf einen anderen Dialekt spricht. Jedoch hat die Popularität tamilischer Filmproduktionen eine Art überregionale Umgangssprache geschaffen.

Die tamilische Schrift ist eine Mischform aus Laut- und Silbenschrift, ein sogenanntes Abugida. Dabei wird als Grundelement der inhärente Vokal a verwendet, mit denen die verschiedenen Konsonanten kombiniert werden. Wird ein anderer Vokal verwendet, wird ein für den jeweiligen Vokal stehendes diakritisches Zeichen an den Konsonanten angehängt, mit dem es eine Einheit bildet. Am Wortanfang stehen die Vokale als eigenständige Zeichen. Insgesamt gibt es zwölf Vokale und 18 Konsonanten (sowie einen aus dem Alt-Tamilischen übernommenen Laut, der halb Vokal und halb Konsonant ist), durch Kombination dieser können 216 Zeichen gebildet werden, sodass sich alles in allem 247 Schriftzeichen ergeben (Diese könnt ihr hier nachsehen: http://www.omniglot.com/writing/tamil.htm ) Dazu gibt es fünf Grantha-Zeichen, die in der Regel nur in Lehnwörtern aus dem Sanskrit verwendet werden. Typisch für die tamilische Sprache ist Syntax bestehend aus Subjekt-Objekt-Verb.

Tamil ist ziemlich kompliziert, wenn ich die Sprache lernen sollte, wird dies eine ziemliche Herausforderung. Aber wir werden sehen, mittlerweile hat mich tatsächlich der Wille gepackt, zumindest Grundlagen zu lernen und mit der Schrift vertraut zu werden, sodass ich mir später einiges selbst beibringen kann.



Montag, 15. Mai 2017

Woche Sechs: Sag, wie habt ihr's mit der Religion?

Zurück in Chennai kehrte der Alltag wieder ein, bestehend aus der Projektarbeit und dem gemeinsamen Essen in der Familie. Dieser wurde nur unterbrochen durch einen Zoobesuch am Donnerstag: Einmal im Monat steht mir als regulärem, nicht vom BMZ oder Bundesfamilienministerium gefördertem Freiwilligen ein sogenanntes „Cultural Event“ zu. Dieses besteht aus monatlich unterschiedlichen Aktivitäten, in der Regel Ausflüge zu wichtigen historischen oder kulturellen Stätten, aber auch z.B. Besuche von Hochzeiten oder Ähnlichem, die der Freiwillige gemeinsam mit seiner Koordinatorin oder seinem Koordinatoren unternimmt.

Der Eingang des Zoos

In meinem Falle besuchten wir den „Arignar Anna Zoological Park“ ca. 30 Kilometer südwestlich des Stadtzentrums. Mit über 500 Hektar Ausdehnung und etwa 2200 Tieren ist er der größte Zoo Indiens und beherbergt unter anderem Elefanten, Giraffen, Affen, Bengalische und Weiße Tiger, asiatische Löwen, diverse Hirsch- und Vogelarten und verschiedene Krokodile, darunter die seltenen Gangesgaviale. Bis 1985 war der zugleich auch älteste Zoo des Landes im Zentrum der Stadt beheimatet, aufgrund von Platzmangel musste er dann jedoch an seinen heutigen Standort umziehen. Dort wurde er inmitten eines Waldes errichtet, der dem Bau zwar anfangs weichen musste, später aber unter Mithilfe von Anwohnern und Angestellten wieder aufgeforstet wurde. Der Zoo selber verfolgt das Ziel, vor allem gefährdete regionale und nationale Tierarten zu züchten und diesen dabei so viel Freiraum wie möglich zu lassen. Der Tag an sich war interessant, mit unserer kleinen Gruppe von sechs Leuten, die aus meiner Koordinatorin, einer ihrer Freundinnen, zwei Freiwilligen aus Pondicherry und deren Koordinatorin und mir bestand, hatten wir viel Spaß. Auf Fahrrädern, die blöderweise für alle Großgewachsenen viel zu klein waren, erkundeten wir das Gelände und staunten über viele der Tiere. Allerdings hatte ich den Eindruck, dass wir uns dabei etwas abhetzten, vielleicht wäre eine Tour zu Fuß entspannter und zugleich informativer gewesen, aber vielleicht bin ich auch nur von europäischen Zoos verwöhnt. Ich muss aber ebenfalls sagen, dass sich mir der Eindruck aufdrängte, am Zoo selber habe sich seit einiger Zeit (seit der Eröffnung?) nicht mehr viel getan, in einigen Gehegen lagen Bretter herum und es entstand ein etwas schäbiger Gesamteindruck. Man muss aber hinzufügen, dass dies sicherlich auch dem Zyklon letzten Dezembers zuzuschreiben ist, dessen Folgen auch abseits des Zoos noch an vielen Stellen sichtbar sind. Zudem muss ich mich jedoch fragen, inwiefern in Indien überhaupt ein Bewusstsein für das Tierwohl und Zoos besteht. Zwar war der Eintritt für europäische Verhältnisse billig, im Inneren sah man trotzdem eher betuchte Familien mit Kindern, die auch nicht in Ehrfurcht die Tiere bestaunten, sondern stattdessen lärmend vor beispielsweise den Scheiben der Terrarien standen und Unruhe verbreiteten, während ihre Eltern an jeder Ecke ein Selfie machten (nicht umsonst macht eine indische Handymarke Werbung mit dem Slogan „Welcome to Selfiestan“). So weiß ich nicht so recht, was ich von diesem Ausflug halten soll, einerseits war allein die schiere Größe des Geländes neben vielen anderen positiven Aspekten beeindruckend, aber andererseits konnte ich nicht die Ruhe verspüren, die mich sonst so gerne in Zoos gehen lässt.

Samstag erlebte ich aus meiner Sicht das Highlight dieser Woche. Wir besichtigten am späten Nachmittag zwei alte Tempel, die sich im Nachbardorf befinden. Dabei erfuhr ich viele Details über die Vergangenheit dieser Gegend, aber auch über den Hinduismus im Allgemeinen, die mich zum eigentlichen Thema dieses Blogeintrags bringen: Der Religion.

Der Tempel Shivas
Die beiden Tempel wurden vor rund 1000 Jahren (angeblich habe sogar Marco Polo im 9. (!) Jahrhundert über diese in seinen Reiseberichten geschrieben) von den Königen der Pandya, die im Zenit ihrer Macht von Madurai aus große Teile Südindiens beherrschten, errichtet. Nach deren Untergang habe die Natur große Teile der Gegend zurückerobert, bis vor etwa 30 Jahren aufgrund der Überbevölkerung Chennais aus der Stadt ausgezogene Familien die zu dem Zeitpunkt bestehenden Baumbestände abgeholzt und dabei die Tempel wieder freigelegt und wieder angefangen haben, diese zu nutzen. Der größere Haupttempel ist Shiva geweiht, während im kleineren die Verehrung Perumals, also Vishnus, im Vordergrund steht. Dabei konnte ich zum ersten Mal das Tempelinnerste besichtigen, was mich zutiefst beeindruckt hat, die vielen unterschiedlichen Götterbildnisse, die Hingabe, mit der diese gereinigt und geschmückt werden, aber auch die architektonische Kunst, die sich meines Erachtens vor allem an den ausgeklügelten Bewässerungskanälen und -leitungen zeigt, die heutzutage aber nicht mehr in Benutzung sind. Davon ausgehend möchte ich einen kurzen allgemeineren Überblick über die religiöse Situation vor allem in Tamil Nadu geben, aber auch auf die Grundideen des Hinduismus eingehen.

Von den ca. 72 Millionen Einwohnern des Bundesstaates sind etwa 88 Prozent Hindu, 6 Prozent Christen und 6 Prozent Muslime. Andere Religionen wie der Jainismus sind nur sehr gering vertreten. Nach Kerala beherbergt Tamil Nadu in absoluten Zahlen die zweitmeisten Christen in ganz Indien, aber auch die Zahl der Hindus liegt weit über dem Landesdurchschnitt von 80 Prozent. Der Islam konnte sich dagegen weit weniger durchsetzen, als in Nordindien.

Mit etwa einer Milliarde Gläubigen ist der Hinduismus nach dem Christentum und dem Islam die am drittmeisten verbreitete Religion auf der Erde, wovon ca. 92 Prozent in Indien leben. Hier ist er der dominante Glaube, seit er sich im ersten nachchristlichen Jahrtausend gegen den bis dato vorherrschenden Buddhismus durchsetzte. Der Begriff geht ursprünglich auf die muslimischen Eroberer zurück, die ab dem frühen 8. Jahrhundert über den Indus in die Gangesebene vordrangen und dabei weite Teile Nordindiens unterwarfen. Aufgrund der Tatsache, dass die nichtmuslimischen Bewohner (arabisch „Dhimmi“) in historischen muslimischen Staaten eine Kopfsteuer zu leisten hatten. Um zwischen der eingewanderten muslimischen Bevölkerung und den alteingesessenen, andersgläubigen Bewohnern des Landes jenseits des Indus (persisch „Hindu“) zu differenzieren, wurde der Begriff als Sammelbezeichnung für alle Nicht-Muslime eingeführt. Diese steuerliche Unterscheidung wurde von allen nachfolgenden Reichen fortgeführt und auch schließlich von den Briten übernommen, die auf Grundlage der Verwaltungsstrukturen der Moguln arbeiteten. Die Bedeutung des Begriffs „Hindu“ ergibt sich also in erster Linie aus seiner Abgrenzung zum „Muslim“.

Ein Mandala zur Feier des Vollmondes

Unsere heißgeliebten europäischen Nachbarn von der Insel, die uns gerade mit ihren Brexit-Forderungen ein interessantes Schauspiel darbieten, waren es dann, die erstmals zwischen „Indern“ als Bewohner des Subkontinents und „Hindus“ als Anhänger der traditionellen Religionen im Gegensatz zu Christen und Muslimen unterschieden. Daraus entwickelte sich der „Hinduismus“ als Sammelbegriff. Dabei wurde jedoch übersehen, dass die Religionen, die unter diesem Begriff zusammengefasst wurden, keineswegs einheitlich waren, wie es der Begriff vorzugeben scheint. Stattdessen bezeichnet „Hinduismus“ eine Vielzahl unterschiedlichster Religionen und Strömungen, die monotheistischer, polytheistischer und dualistischer Natur sein können. Es gibt weder ein gemeinsames Glaubensbekenntnis, noch eine zentrale Institution, die für alle Hindus spricht, noch einen einzelnen Religionsstifter, sodass sich selbst die „Welt-Hindu-Konferenz“ schwertat, eine allgemeingültige Definition zu verfassen. Allerdings besteht zwischen den vielen einzelnen Glaubensrichtungen keine Konkurrenz, stattdessen können sie häufig in Eintracht feiern und beten, getreu dem Motto „Einheit in Vielfalt“.

Es ist sehr schwer, diese Vielfalt an Strömungen zu kategorisieren. In Indien selbst wird gemeinhin unterschieden zwischen dem brahmanischen Sanskrit-Hinduismus, der stark ritualisiert ist, sich auf die Veden beruft und vor allem von der Priesterkaste der Brahmanen getragen wird, dem dörflich-volksreligiösen Hinduismus, in dem teilweise polytheistische Elemente des Sanskrit-Hinduismus mit animistischen Elementen vermischt werden und in der Regel neben den Hochgöttern wie Vishnu, Shiva, Ganesha, etc. lokale Gottheiten und Hlden verehrt werden, und schließlich gestifteten Religionen, die sich auf einen einzelnen Religionsstifter berufen, der mit seinen Iden passiv oder aktiv den Anstoß für die Gründung einer neuen Bewegung gegeben hat. Außerhalb Indiens wird zwischen „großer“ und „kleiner Tradition“ unterschieden: Als „groß“ versteht man den brahmanisch-sanskritischen Hinduismus, der Merkmale einer Hochkultur aufweist (Priesterklasse, Hochgötter, einheitliche Texte), wohingegen unter „klein“ die Volksreligionen und Sekten/ gestifteten Religionen zu verstehen sind.

Gemeinhin unterscheidet man drei Hauptrichtungen des Hinduismus: Den Vishnuismus, den Shivaismus und den Shaktismus. Alle drei stellen jeweils eine Gottheit in das Zentrum ihrer Theologie, wobei es auch innerhalb dieser Richtungen unterschiedliche Strömungen gibt, die wiederum andere Glaubensprinzipien betonen und unterschiedliche Auffassungen über die Form der Gottheiten haben. So stellt der Vishnuismus Vishnu in den Vordergrund, der Shivaismus Shiva und der Shaktismus das weibliche Urprinzip bzw. weibliche Göttinen, die die treibenden Kräfte hinter den Handlungen ihrer jeweiligen männlichen Seiten sind. Allgemein gesprochen sind die Strömungen sehr vielfältig, jedoch gibt es überall jeweils einen höchsten persönlichen Gott oder die unpersönliche Weltseele (Brahman), der sich in vielerlei Formen, in der Regel als andere Gottheit, manifestiert. Ebenfalls populär ist die Darstellung Brahmas, Shivas und Vishnus als Trimurti (Dreiheit).

Das Innerste des Tempels

So unterschiedlich sie auch sind, so gibt es doch einige zentrale Konzepte, die vielen Ausrichtungen gemein sind. So durchlaufen alle Lebewesen im ewigen Kreislauf des Lebens und der Wiedergeburt, Samsara, die Weltzeitalter, Yuga. Während seiner Zeit auf Erden sammelt jedes Individuum abhängig von seinem Verhalten im Bezug auf das Dharma, die Ordnung, der alles unterliegt, Karma, in welchem die aus den Handlungen des Individuums entstandenen Konsequenzen beinhaltet sind. Das Karma wiederum beeinflusst die zukünftigen Reinkarnationen und die Erlösung (Moksha), die aus dem Aufgehen des Atman in Brahman besteht. Das Atman ist zu vergleichen mit einem kosmischen, unsterblichen Kern, ähnlich der Seelenlehre Platons. Die Erlösung ist das Ziel eines jeden Gläubigen und kann durch persönliche Erleuchtung erreicht werden. Zu dieser gelangt man, indem man, unter anderem, den Wegen des Bhakti Yoga, der liebenden Verehrung Gottes, des Karma Yoga, dem Weg der Tat, dem Jnana Yoga, dem Weg des Wissens oder dem Raja Yoga, dem „Königsweg“, folgt.

Natürlich beinhaltet der Hinduismus noch weitaus mehr, als ich hier auf die schnelle darstellen konnte, aber ich hoffe, ich konnte einen Überblick geben und vielleicht das Interesse des ein oder anderen wecken.

Hampi